Sein erster Ritt

Ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung erscheint das erste gemeinsame Lucky-Luke-Album von Morris und Goscinny in einer adäquaten Ausgabe. von deniz yücel

Das Frühwerk. Ob es um Schrift­steller, Philosophen oder Musiker geht, Kenner bevorzugen in der Regel das Frühwerk. Nicht weil sie glauben, dass früherallesbesserwar, sondern feststellen, dass bei vielen Künstlern und Denkern das Kompromisslose und Originelle mit der Zeit verschwindet und ersetzt wird durch die selbstgefällige Bequemlichkeit, die wohlfeile Wiederholung und die Sorge um den Broterwerb. (Daher werden jene, die, ob nun aus Einsicht oder unfreiwillig, auf ein Spätwerk verzichtet haben, besonders geschätzt.)

Hegel, dessen kämpferische frühe Schriften allemal seiner staatstragenden späten Schreibe vorzuziehen sind, hat, nach­dem er selbst die Lang­hosen des französischen Revolutionärs gegen die Ärmelschoner des preußischen Beamten eingetauscht hatte, über das jugendliche Aufbegehren bemerkt: »Das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, dass sich das Sub­jekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit dersel­ben hineinbildet (…). Mag einer sich auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister, so gut wie die anderen auch.«

Aber wir wollen diesen Gedanken nicht vertiefen, sondern zum Sujet des Frühwerks zurückkehren und einräumen, dass es Ausnahmen gibt, auffällig viele sogar, wenn es um Humor geht. (Ein interessanter Forschungsauftrag wäre die Frage, ob Jugend Spaß versteht.) Manch einer wurde mit dem Alter besser, und sicher gehört René Goscinny dazu, der Autor von Comic­serien wie Lucky Luke, Asterix oder dem leider in Vergessenheit geratenen Isnogud.

Fast 30 Jahre nach seinem Tod, fünf Jahre nach dem Tod des Zeichners Morris (Maurice de Bevère) und 51 Jahre nach der Entstehung ihres gemeinsamen Debüts hat der Ehapa-Verlag dieses erstmals einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Bislang war »Die Eisenbahn durch die Prärie« hierzulande nur in einer limitierten Sonderreihe und in der Gesamtausgabe zu finden. Dass eine der ältesten Arbeiten nun als Nummer 79 eingereiht wird, mag etwas irritieren, fällt aber angesichts der völlig unchronologischen, der bewegten deutschen Publikationsgeschichte geschuldeten Zählung kaum auf.

Verglichen mit den späteren Werken wirken Zeichnungen und Dialoge unbeholfen. Dennoch bildet es einen Wendepunkt, den man gewahr wird, wenn man jene acht Bände betrachtet, die Morris zwischen 1947 und 1957 alleine produziert hatte: slapstickartig und an Popeye erinnernd gezeichnet, eher lose Abfolgen von Bildwitzen denn dramaturgisch entwickelte Geschichten, weitgehend frei von Subtilität, mit einem burschikosen und gewalttätigen Titelhelden und steifen Dialogen. Es waren Comics für kleine Jungs der fünfziger Jahre, mit einer Hauptfigur, an die sich heute niemand erinnern würde, wenn sich nicht Goscinny ihrer angenommen hätte. So liegen Welten zwischen dem einzigen Auftritt der historischen Brüder Dalton in »Die Gesetzlosen« (1954), die darin von Lucky Luke erschossen werden, und dem ersten Auftritt der von Goscinny erfundenen Vettern Joe, William, Jack und natürlich, herzallerliebst, Averell im Band »Vetternwirtschaft« (1957). Morris wusste um die Bedeutung seines Partners: »Ich habe das große Privileg, dass ich der erste war, für den Goscinny Szenarios machte.«

Doch auch er brauchte Zeit, um seine Figuren zu entwickeln, um Running Gags einzuführen, die hernach zitiert, variiert und verfremdet werden konnten, um die brillante Leichtigkeit zu entwickeln, mit der er historische Fakten und parodistische Fiktion ineinander verwob. Ähnlich wie Asterix lief Lucky Luke langsam zur Bestform auf. Doch während jener mit Verleihnix, Methusalix, Majestix oder Gutemine aufwarten konnte, blieben Lukes regelmäßige Nebenfiguren spärlich – der Unterschied zwischen dem sesshaften Gallier und dem heimatlosen Cowboy.

Zu den wenigen festen Charakteren sollte sich Jolly Jumper entwickeln. Lucky Lukes Pferd wuchs zum mürrischen und sarkastischen Kommentator, der sich über Rantanplan (»Der Hund, der dümmer ist als sein Schatten«) pikiert und amüsiert, mit seinem Cowboy Schach spielt, wenngleich man sagen muss, dass es etwas langsam zieht (»Jesse James«, 1969) oder Leitartikel schreibt (»Daily Star«, 1984, verfasst von Xavier Fauche und Jean Léturgie). In »Die Eisenbahn durch die Prärie« aber werden ihm nur ein paar Frage- und Ausrufezeichen zugestanden.

Dafür tauchen einige typische Gags zum ersten Mal auf. Zum Bespiel die kuriosen Ortsschilder (»Dead Ox Gulch – Bleib nicht zu lange, Fremder, sonst bleibst du für immer«), die Sitte, dass Delinquenten auf Schienen getragen werden (allerding noch ohne Teer und Federn), oder die Schlussszene, in der Lucky Luke »I’m a poor lonesome Cowboy« singend dem Sonnenuntergang entgegenreitet. Dafür hat er noch in jedem Duell eine Zigarette im Mundwinkel.

Natürlich musste die Bahn, die später zum Schauplatz wunderbarer Überfälle und anderer Scherze werden sollte, zunächst gebaut werden. Auch die Handlung – die Erschließung des Wilden Westens und die Überwindung von Wüsten, Bergen und Gefahren, die von Indianern, Banditen und eingeschleusten Saboteuren ausgehen – wurde später variiert: als Bau der Telegraphenleitung (»Der singende Draht«, 1977), als Sied­lertreck (»Kalifornien oder Tod«, 1963) oder als Reise mit der Postkutsche im gleichnamigen Album (1967). Manches, was hier kurz vorkommt, wurde zum Thema eigener Geschichten, so die Erdölsuche (»Im Schatten der Bohrtürme«, 1960) oder die Rinderherden (»Stacheldraht auf der Prärie«, 1965). Im – nur mäßig überzeugenden – Album »Nitroglycerin« (1987) griff Morris mit Lo Hartog van Banda auch den Eisenbahnbau erneut auf.

Hierzulande war Goscinnys Tod fast unbemerkt geblieben, bis weit in die neunziger Jahre gab es unveröffentlichte Geschichten. Zwar gelang es Morris einigermaßen, seinen Helden vor dem mitleiderregenden Schicksal zu bewahren, das der Zeichner Uderzo nach Goscinnys Tod Asterix bescherte. Doch die Alben, die Morris mit wechselnden Autoren vorlegte, erreichten nur selten die Qua­lität der klassischen Hefte. Zu diesen gehört »Die Eisenbahn durch die Prärie« nur bedingt, das Album ist vor allem werkgeschichtlich interessant. Den Ungläubigen wird der Band nicht überzeugen, der Bekehrte aber wird ihn verschlingen, weil er vom Meister stammt.

Und Lucky Luke lebt weiter. Achdé (Hervé Darmenton) und Laurent Gerra haben im vorletzten Jahr mit »Schikane in Quebec« ein respektables Debüt abgeliefert, im Herbst soll ihr zweites Album folgen, das mit etwas aufwarten will, das Morris und Goscinny vernachlässigt haben: einer Lovestory, gar mit den Daltons.

Morris/Goscinny: Die Eisenbahn durch die Prärie, Ehapa, 46 Seiten, 4,50 Euro