Wenn nichts mehr geht

In der Schweiz gibt es legale Einrichtungen, die suizidwilligen Menschen beim Sterben assistieren. ron steinke (text) und bernd schuhmacher (fotos) haben zwei dieser Vereine besucht

Bei gutem Wetter kann man von den Hügeln in Forch bei Zürich aus weit sehen. Die verstreuten Häuser am Hang verdichten sich in der Ferne zur Großstadt, darunter liegt der Zürichsee. Seit Jahren kommen todkranke oder an ihrem Leben verzweifelnde Menschen aus Deutschland hierhin, um zu erhalten, was ihnen deutsche Ärzte nicht verschaffen dürfen: einen schnellen und schmerzlosen Tod von eigener Hand. Der Verein namens »Dignitas – menschenwürdig leben – menschenwürdig sterben« bietet Hilfe zum Suizid, eine Tätigkeit, die in der Schweiz legal ist. Vor genau einem Jahr eröffnete der Verein in Hannover eine Anlaufstelle für Sterbewillige. Von dort aus werden Menschen hierhin weitergeleitet, an diesen kleinen Ort in der Nähe von Zürich.

77 der insgesamt 138 Menschen, die sich im vergangenen Jahr hier beim Sterben assistieren ließen, kamen aus Deutschland. Damit bilden die Deutschen hier inzwischen die größte Gruppe. Der Verein weist den Vorwurf zurück, ein Geschäft mit dem Tod zu betreiben, und besteht darauf, keine wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Die 3 500 Euro, die eine »Freitodbegleitung« für Menschen aus dem Ausland kosten, seien durch die intensive Vorbereitung und den Aufwand mit den Behörden zu erklären.

Dignitas bietet sterbewilligen Menschen Gespräche an, die nicht das Ziel verfolgen, sie von ihrem Ansinnen abzubringen. Das unterscheidet diese Beratung von der Beratung durch Ärzte oder Psychologen in Deutschland. Wer sich ihnen mit einem ernsthaften Suizidwunsch anvertraut, muss damit rechnen, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden.

Die Medizin behandelt die Entscheidung eines Menschen für den eigenen Tod als psychische Störung. Personen, die wegen eines Suizidversuchs in ein Krankenhaus eingeliefert wurden, werden in der Regel auf einer geschlossenen psychiatrischen Station überwacht, bis sie glaubhaft machen können, dass keine Suizidgefahr mehr besteht. Nach den Unterbringungsgesetzen der Bundesländer haben Ärzte die Möglichkeit, akut suizidale Menschen auch vorsorglich in psychiatrische Kliniken einzuweisen, wo sie mit starken Medikamenten vor sich selbst geschützt werden. Den Transport in die Kliniken übernimmt in diesen Fällen oft die Polizei.

Dabei ist der Suizid nach deutschem Recht nicht illegal. Auch wer einer anderen Person beim Suizid assistiert, macht sich prinzipiell nicht strafbar. Eine gesetzliche Ausnahme gilt allerdings für Ärzte und Angehörige. Sie stehen in einer so genannten Garantenstellung und sind dazu verpflichtet, das Leben von Sterbewilligen auch gegen deren Willen zu retten. Wenn ein sterbewilliger Mensch seine Angehörigen nicht belasten will, muss er alleine aus dem Leben scheiden, ohne die Nähe der Menschen, die ihm im Leben wichtig waren. Dies schützt die Betroffenen allerdings auch davor, von ihren Angehörigen beeinflusst zu werden.

»Die Tabuisierung des Suizids verschärft das Elend nur noch«, meint Ludwig Minelli, der Gründer von Dig­nitas. »So bleiben die Menschen allein mit ihrer Verzweiflung und greifen zu völlig ungeeigneten Methoden. Immer wieder liest man in der Zeitung, dass jemand versucht hat, sich mit Tabletten umzubringen. Das ist völliger Quatsch! Mit den heutigen Tabletten kann man sich nicht mehr umbringen. Es gibt unzählige misslungene Suizide, die dazu führen, dass die Leute jahrzehntelang im Pflegeheim als Idioten gepflegt werden.«

Klickt man in der Dignitas-Homepage auf die Rubrik »Who is who«, erscheint allein Ludwig Minellis Name. Der Zürcher Rechtsanwalt gründete das Vereinsbüro in Hannover, um, wie er sagt, in Deutschland für das »Selbst­bestimmungsrecht für mündige Menschen« zu streiten. Als im Sommer vorigen Jahres die Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, die damalige niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) und die niedersächsische Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann (ebenfalls CDU) erfolglos nach Wegen suchten, um die Vermittlungstätigkeiten seines Vereins in Deutschland zu verbieten, nannte Minelli sie »die drei kopflosen Hühner«. Ursula von der Leyen hatte damals kritisiert, dass Dignitas einen »völlig falschen Weg« einschlage. Notwendig sei »vielmehr eine starke Palliativversorgung, die ein schmerzfreies und würdevolles Sterben« ermögliche.

Die Forderung nach dem Ausbau der Palliativmedizin, welche die Schmerzen von unheilbar Kranken lindert, teilt auch Dignitas. Die Tätigkeit des Vereins deutet jedoch auf ein Problem hin, das nicht lediglich mit unheilbaren Krankheiten erklärt werden kann. Das Statistische Bundesamt zählt mehr Suizide als Verkehrstote, 11 000 waren es im vergangenen Jahr. Die Zahl der gescheiterten Suizidversuche wird statistisch nicht erfasst, die meisten Wissenschaftler gehen jedoch von jährlich etwa 150 000 Fällen aus, andere schätzen die Zahl sogar auf 500 000. Im vergangenen Jahr überlebten etwa 11 000 Menschen mit schweren körperlichen oder geistigen Schäden einen Suizidversuch. Bei Jugendlichen führt nur einer von 200 Versuchen tatsächlich zum Tod, und inzwischen sind es vor allem ältere Menschen, die sich das Leben nehmen. Mit dem Alter steigt die Sui­zidrate drastisch an. Die meisten Frauen, die sich umbringen, sind älter als 60 Jahre.

Der überproportional große Anteil alter Menschen an den Suiziden hat gewiss mit der Zunahme von ausweglosen Krankheiten und Schmerzen im Alter zu tun. Psychologen betonen aber auch, dass das Phänomen nicht ohne die schwierigen Lebensumstände älterer Menschen und ihre Stigmatisierung als vermeintlich leistungsunfähige, perspektivlose Menschen erklärt werden könne. Zur gesellschaftlichen Abwertung komme oft die Realität der vergessenen Alten hinzu, die Vernachlässigung durch die Familie und das Pflegepersonal, die mitunter erst den Ausschlag dafür gebe, dass die Betroffenen ihre Krankheit letztlich als entwürdigend empfänden.

Bei Dignitas werde der Sterbewunsch nicht moralisch bewertet, sagt Minelli. Stattdessen werde nach den Gründen für die Verzweiflung gefragt und Beratung angeboten. Die Beratung von Menschen außerhalb der Schweiz beschränkt sich dabei allerdings oft auf eine telefonische oder briefliche Korrespondenz.

Der zweite Suizidhilfe-Verein in der Schweiz, Exit, lehnt eine solche Fernberatung ab. »Eine seriöse Abklärung, ob die Voraussetzungen für eine Freitodbegleitung gegeben sind, ist bei Personen aus dem Ausland in den meisten Fällen nicht möglich«, erläutert Bruno Torghele, ein Mitarbeiter von Exit in Zürich. »Wir möchten auch keinen Sterbetourismus fördern.« In der Schweiz spielt die Organisation mit ihren 50 000 Mitgliedern eine größere Rolle als der vergleichsweise kleine Verein Dignitas mit seinen 6 000 Mitgliedern. Ludwig Minelli war einst selbst Mitarbeiter von Exit, ehe er im Jahr 1998 die Organisation im Streit verließ und Dignitas gründete. Exit betreut aus den genannten Gründen nur Menschen, die in der Schweiz leben. Nur Dignitas nimmt sich auch Sterbewilliger aus dem Ausland an.

Die Vorstellungen darüber, welche Voraussetzungen für eine Suizidhilfe gelten sollen, gehen zwischen beiden Organisationen auseinander. Das schweizerische Strafrecht verlangt von ihnen lediglich, dass die sterbewilligen Personen sich aus eigenem, freiem Willen für den Suizid entschieden haben und dabei urteilsfähig waren. Exit beschränkt seine Suizidhilfe zudem auf solche Menschen, die ohnehin am Ende ihres Lebens stehen. »Wir verkürzen den Sterbeprozess, nicht unbedingt das Leben«, betont Bruno Torghele im Gespräch. Das kann bei todkranken Menschen der Fall sein, die eine Situation vermeiden wollen, in der die Entscheidung über ihr Lebensende in die Hand der Ärzte gelegt wird, weil sie selbst nicht mehr entscheiden können. Das kann aber auch bei älteren Menschen der Fall sein, die, auch ohne an einer unheilbaren Krankheit zu leiden, des Lebens müde geworden sind.

Exit lehnt häufig auch Anfragen ab, obwohl Menschen ihre individuelle Situation als unerträglich empfinden. Dem Suizidwunsch von Personen, die beispielsweise ihr Augenlicht verlieren oder die sich davor fürchten, ihre Selbständigkeit einzubüßen und in einem Altenheim zu enden, wird nicht entsprochen. »Da wer den wir nicht beim Suizid helfen, wohl aber mit Beratung«, sagt Bruno Torghele. Insofern lehnt es Exit nicht grundsätzlich ab, Menschen vor sich selbst zu schützen. Ein klares Kriterium, um die Frage zu beurteilen, welche konkreten Leiden ein Individuum ertragen kann – oder muss – und welche »objektiv« unerträglich sind, gibt es bei Exit aber nicht. Irgendwo müsse man die Grenze ziehen, meint Torghele.

Ludwig Minelli betont demgegenüber: »Wir lehnen nie jemanden ab. Dignitas trifft keine Entscheidungen.« Zumindest vom Standpunkt des Selbstbestimmungsrechts betrachtet ist diese Herangehensweise konsequenter. Dignitas urteilt nicht darüber, ob ein Suizidwunsch »vernünftig« ist. »Wir fragen stets nach den Gründen für den Sterbewunsch. Wenn das zugrunde liegende Problem nicht gelöst werden kann, betrachten wir den Suizid als gerechtfertigt.« Dann wird es dem Sterbewilligen ermöglicht, sich mit dem Gift Natrium-Pentobarbital das Leben zu nehmen. Die Chemikalie ist ein schmerzlos wirkendes Nervengift, das innerhalb weniger Minuten ein Einschlafen bewirkt, kurz darauf stirbt der Mensch an Atemlähmung. Den letzten Schritt, das Trinken des in Wasser aufgelösten Giftes oder das Aufdrehen des Infusionshahns, muss der Sterbewillige selbst tun. Für Menschen, die aus Deutschland anreisen, unterhält Dignitas eine eigene Sterbewohnung.

»Bereits die Möglichkeit zu einem offenen Gespräch, in dem der Suizidwunsch ernst genommen wird, empfinden jedoch viele Menschen als Ventil«, berichtet Minelli. Er glaubt, dass die bloße Aussicht auf ein sanftes und sicheres Medikament zur Selbsttötung viele schwerstkranke Menschen beruhige und sie von einer Verzweiflungstat abhalte. Somit wirke die Arbeit der Suizidhelfer sogar als Suizidprävention.

Für Minellis Beobachtung gäbe es freilich noch andere Erklärungen. Ob es sich nicht bei manchem Suizidwunsch, der Dignitas erreicht, um einen schlichten Hilferuf handelt? »Dem Menschen ist die Gabe der Sprache gegeben«, erwidert Minelli. »Für einen Hilferuf muss er nicht erst Hand an sich legen. Nein, einen Suizidwunsch müssen wir schon als das ernst nehmen, was er ist.« Untersuchungen zeigen jedoch, dass nur eine von drei Personen, deren Suizidversuch scheitert, es danach ein zweites Mal versucht. Der Zürcher Schriftsteller Max Frisch beschrieb den Suizid als eine Kommunikation, zu der der Selbstmörder lebend nicht in der Lage war.

Bei Exit legt man sehr viel Wert darauf, die Ernstlichkeit und Dauerhaftigkeit eines Sterbewunsches sorgfältig zu ermitteln. Feste zeitliche Vorgaben für den Begriff der Dauerhaftigkeit gibt es allerdings nicht. Der Zeitraum zwischen einer Anfrage an den Verein und der Durchführung der Suizidbegleitung könne im Extremfall nur wenige Tage dauern, wenn sonst ein qualvoller Tod durch Krankheit unmittelbar bevorstehe, sagt Torghele. In einem Drittel der Fälle ist der Zeitraum kürzer als 14 Tage, der Großteil der Fälle liegt jedoch deutlich darüber. Jeder Fall sei anders, man könne dies nicht allgemeingültig festlegen.

Auch in Deutschland wird inzwischen darüber diskutiert, ob die Hilfe beim Suizid unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden soll. Der Nationale Ethikrat, jene von der rot-grünen Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission, die sich auch mit dem Klonen oder embryonalen Stammzellen befasst, sprach sich kürzlich zwar gegen eine organisierte Suizidhilfe wie in der Schweiz, aber für eine Lockerung der gegenwärtigen Strafverfolgung von Ärzten und Angehörigen aus, was der Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, als »verhängnisvoll« kritisierte. Der ärztliche »Ethos der Fürsorge für das Leben« verbiete es generell, dass Ärzte an Selbsttötungen mitwirkten. Diese Kritik stört Minelli nicht. Insbesondere die Kirchen seien »mitschuldig« an der schwierigen Lage Sterbewilliger.