»Touristas go home!«

In dem beliebten südmexikanischen Urlaubsort Oaxaca übt sich ein soziales Bündnis im Barrikadenbauen, Politikmachen und Gouverneur-Absetzen. Doch die Repression der Regierenden wird immer heftiger. von marco pulquo

Molto bene, Mescal schon zum Frühstück. Das ist das wahre dolce vita in Mexiko.« Gianni aus Turin ist beseelt von der Gastfreundschaft Oaxacas. Dass die südmexikanische Provinzhauptstadt seit Wochen den Schauplatz sozialer Kämpfe, von Besetzungen und staatlicher Repression bildet, hat der Rucksacktourist bisher noch nicht mitbekommen. Auch dass der Agavenschnaps, den er hier zu früher Stunde auf der Plaza de la Danza bechert, eigentlich zu einem indigenen Zeremoniell für die politischen Gefangenen und kürzlich ermordeten Demonstranten gehört, bleibt ihm fremd. Schnell schießt Gianni noch einige Fotos von den spirituellen Autoritäten und dem mit Früchten, Tortillas und Hölzern dekorierten Altar. Dann schlendert er los, um eine nahe gelegene Barockkirche zu erkunden.

Die übrigen Versammelten kehren hingegen zurück auf den Zócalo, den zentralen Platz der Provinzhauptstadt. Viele von ihnen wollen an diesem Tag ein zivilgesellschaftliches Forum besuchen, um gemeinsame soziale und politische Forderungen zu formulieren und um nach Antworten auf die Repression der Regierenden zu suchen. Einige kollektive Aktionen haben sich bereits im historischen Zentrum Oaxacas manifestiert: Überall Graffiti an den sonst so penibel getünchten Häuserfassaden und meterhohe Wellblechbarrikaden rund um den Zócalo und die angrenzenden Häuserzeilen.

Hinter den Barrikaden haben die Protestierenden den Albtraum aller Stadtplaner wahr werden lassen. Der koloniale Chic ist im Eimer. Wo sonst Touristen und Besserbetuchte ihren geeisten Cappuccino schlürfen, erstreckt sich nun ein Dschungel aus schwarzen und blauen Plastikplanen. Über die Blumenrabatte sind ein paar Hängematten gespannt, unter lichten Baumkronen steigen Rauchsäulen auf. Die Straßenmusiker spielen gegen die Stereoanlagen der CD-Händler an: Marimba versus Queen. Überall kochen in großen Blechkasserollen Kaffee, Bohnen und Reis. Es sind vor allem Frauen, die Feldküchen organisieren und die Schlafstätten verwalten.

Der Besetzung des historischen Stadtkerns gingen inzwischen fast drei Monate andauernde Proteste voraus, ausgelöst durch einen Streikaufruf der oppositionellen Gewerkschaftsströmung CNTE, eines widerständigen Bündnisses innerhalb der mexikanischen Lehrergewerkschaft. Doch die Forderungen der Pädagogen nach besseren Löhnen und Lehrbedingungen ( Jungle World 25/06) beantwortete der amtierende Gouverneur Ulises Ruíz mit einem knallharten Polizeieinsatz.

Die Grundschullehrerin Karina Zavala erinnert sich gut an jenen 14. Juni, an dem 3 000 Polizisten versuchten, 40 000 Demonstranten auseinanderzutreiben. »Am schlimmsten waren die Kinder von der Repression betroffen. Ich zumindest kann einfach nicht akzeptieren, dass tatsächlich Tränengas gegen Kinder eingesetzt wurde. Die haben auch mit scharfer Munition auf uns geschossen. Als die Kollegen vom Land und aus anderen Städten von dem Polizeieinsatz hörten, beschlossen viele, auch nach Oaxaca-Stadt zu kommen, um uns zu helfen. Und so entwickelte sich eine massive Unterstützung.«

Karina steht zusammen mit Dutzenden weiterer ziviler Ungehorsamer Schlange vor der ebenfalls besetzten juristischen Fakultät, wo an den kommenden beiden Tagen das »Nationale Forum zur Schaffung von Demokratie und Regierbarkeit in Oaxaca« tagen soll. Trotz der drückenden Hitze haben sich viele Interessierte aus dem Schatten gewagt. Längst ist aus der Arbeitsniederlegung der Pädagogen ein soziales Bündnis entstanden. Indigenas, Studenten, Hausfrauen, Menschenrechtler und Landpastoren, sie alle drängeln sich vor dem Eingangsportal. Die Taschenkontrollen sind langwierig, aber notwendig. In den vergangenen Wochen haben die Übergriffe auf das soziale Bündnis extrem zugenommen.

Unruhig läuft im Innenhof der Universität Samuel Hernandéz die Sitzreihen ab und bereitet sich mental auf seinen Redebeitrag für die gleich beginnende Podiumsdiskussion vor. Gegen einen kurzen Plausch hat er trotzdem nichts einzuwenden. »Es gab schon vor der Repression am 14. Juni einen großen Bedarf in der Bevölkerung, die angesammelte Unzufriedenheit herauszulassen. Erst der Lehrerstreik hat aber eine Plattform geschaffen, auf der sich die diversen sozialen Probleme ausdrücken lassen.« Einmal in Fahrt gekommen, berichtet er von den als megamarchas bekannt gewordenen Großdemonstrationen der vergangenen Wochen und der Gründung der »Volksversammlung Oaxaca« (APPO), einem Bündnis von mehr als 30 sozialen Organisationen, Basisgruppen und NGO. Samuel hat große Erwartungen an das heute beginnende Forum. »Es geht jetzt vor allem darum, gemeinsam ein eigenes politisches Programm zu schaffen. Doch was letztlich möglich ist, wird auch von weiteren Gegenreaktionen der Regierung abhängen.«

Jüngst haben sich Übergriffe auf die Protestierenden gehäuft. Mutmaßliche Paramilitärs haben bislang fünf Unterstützer der sozialen Bewegung erschossen. Vor einigen Tagen folterte die Polizei zwei festgenommene Lehrer. Insgesamt sollen über 50 Haftbefehle gegen politische Aktivisten vorliegen. Immer wieder werden auch Zeitungsredaktionen und Basisradios angegriffen, die sich nicht an der Diffamierung der Proteste beteiligen. Die Einrichtungen vieler Basisorganisationen werden überwacht, einige sind nachts von bewaffneten Gruppen angegriffen worden.

Die Repression ist auch Thema auf dem Forum. Immer wieder wird der Rücktritt von Gouverneur Ruíz gefordert und es wird verlangt, die Verantwortlichen für die politischen Morde zur Rechenschaft zu ziehen. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen äußern sich besorgt über die aktuelle Lage in Oaxaca. Doch konkrete Vorschläge, wie weitere Übergriffe auf das soziale Bündnis verhindert werden könnten, kommen nicht zur Sprache. Vielmehr war bereits vor Beginn des Treffens ein striktes Programm aus Podiumsdebatten und Diskussionsrunden zusammengestellt worden. »Der Witz ist bloß, dass niemand weiß, wie dieses Programm genau zustande gekommen ist. Da sind irgendwelche Referenten und auch Vertreter der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) eingeladen worden, ohne das vorher öffentlich zu beschließen. Der jetzigen Regierung werfen wir vor, nicht transparent zu sein, aber hier ist es nicht anders«, meint Miguel von der anarchistischen Indigena-Organisation CIPO.

Daniel von einem Kollektiv für sexuelle Vielfalt hat bereits nach der Hälfte des ersten Tages genug von dem Forum: »Ich weiß nicht, was Demokratie ist, hab’ sie leider nie gelebt, aber hier werde ich wohl nichts darüber erfahren.« Lieber verbringt er den Rest des Nachmittags im Stadtpark. Auch Cristóbal, der hilft, die Veranstaltung in einem Internetradio zu übertragen, braucht erst mal eine Pause. »Das Gelaber halte ich nicht lange durch. Hier auf der Straße müsste man übrigens auch wieder aktiver werden. Ein seltsamer Ort ist das, ringsherum die Barrikaden, aber trotzdem scheint es den Leuten nicht so ganz geheuer, endgültig die Macht hier zu übernehmen.«

Cristóbal versteht vor allem nicht, warum bisher nicht mehr Gebäude im Zentrum besetzt wurden. Lediglich ein Hotel und seit kurzem auch einige Bankgebäude werden belagert. Die meisten Geschäfte rund um den Zócalo haben gleich zu Beginn der Proteste ihre Türen geschlossen. Nur wenige der umliegenden eleganten Bars und Restaurants haben geöffnet. Die Reisegruppen, die sich dort ansonsten um die besten Plätze streiten, sind einigen wenigen Besuchern gewichen. Wahrscheinlich haben die meisten Touristen das große Graffito am Eingang einer Bankfiliale wörtlich genommen: »Touristas go home«.

Zurückgekehrt sind dagegen die Straßenhändler und mobilen Taco-Stände. Vor einem Jahr hatte sie die Stadtverwaltung aus dem Zentrum vertrieben, jetzt blühen die Geschäfte wieder. »Piraterie ist kein Verbrechen«, steht an einem Stand geschrieben, wo mit kopierten Filmen und Musikvideos gehandelt wird. »Hast du schon die Aufnahmen von dem Polizeieinsatz im Juni?« fragt der jugendliche Verkäufer und reibt sich die verschwitzten Hände am Vestover ab. »Musst du gesehen haben. Ich hab’ einen ganzen Koffer voll von dem Zeug.« Ein paar Meter weiter kann man Bildungslücken schließen: Bakunin, Proudhon und die Schriften von Ricardo Flores Magón findet man da. Leichtere Kost gibt’s gleich nebenan: Quesadillas mit Kürbisblüten und gekühlter Hibiskustee, der hier Agua de Jamaica heißt.

Doch die Picknickstimmung ist trügerisch. Immer wieder sorgen Zivilpolizisten und bezahlte Unruhestifter für Ärger. Heute hat eine Gruppe von Männern das Gerücht gestreut, die APPO wolle alle Straßenhändler wieder aus der besetzten Altstadt vertreiben. »Natürlich völliger Unsinn«, meint Ana María Hernández, eine Vertreterin des »Rates für parlamentarischen Dialog und Gleichheit in Oaxaca«. Sie ist oft in der Nähe des Zócalo anzutreffen, wo sie Workshops und Diskussionsrunden organisiert: »Gerade die Rückkehr der Kunsthandwerker und Straßenmusiker ist ein kreativer Ausdruck der sonst ausgeschlossenen Bevölkerung. Hier treffen viele Menschen in einem offenen Austausch aufeinander. Das ist enorm wichtig. Aber trotzdem scheint mir, dass das nicht reichen wird. Wir müssen die Mobilisierungen gleichzeitig weniger zentral gestalten, sonst wird sich die Bewegung nicht halten können.«

Ana María erzählt, dass viele der streikenden Lehrer inzwischen wieder in ihre Städte und Dörfer zurückgekehrt sind. »Wichtig ist jetzt, dass sie auch nach ihrer Rückkehr aktiv bleiben und eine Debatte anregen.« Zwar treffen täglich in Oaxaca Meldungen ein, dass in den Küstenregionen des Bundes­staats und der Sierra Madre Straßen gesperrt und Rathäuser besetzt wurden. Aber viele Kommunalpolitiker halten Gouverneur Ruíz bisher weiterhin die Treue, gehen ihrerseits gewaltsam gegen Proteste vor oder verbreiten über lokale Radio- und Fernsehsender die verleumderischsten Gerüchte.

Auch deshalb eignen sich Basisgruppen und einzelne politische Aktivisten immer wieder Medieninstitutionen an. »Das besetzte Uniradio war lange Zeit ein wichtiges Sprachrohr der sozialen Bewegungen hier«, erzählt Diana bei einer Zigarettenpause im Stadtpark. Die Kunststudentin war dabei, als Paramilitärs dem Sender vor einem Monat einen nächtlichen Besuch abstatteten. »Sie fuhren mit drei Lastwagen vor. Dann fing ein Typ an zu schießen, und immer mehr von ihnen stiegen aus den Lastwagen aus. Wir rannten, um uns in der Sprecherkabine zu verstecken. Draußen begannen sie zu schreien, sie würden uns alle umbringen. Leute vom Sender begannen, Molotowcocktails zu werfen. Ich hörte die Mollis explodieren, Fenster zersplittern und Kugeln einschlagen. Dann, nach zehn Minuten, war plötzlich alles vorbei.« Noch bevor der Transistor der Station einem Säureanschlag zum Opfer fiel, entschied das Sendekollektiv, Dianas Sendung abzusetzen. Es sei nicht der Moment für Kulturbeiträge. Man müsse ausschließlich die Repression dokumentieren. Deshalb will sie mit einigen Freunden einen neuen Radiosender gründen.

Auch die friedliche Übernahme einer bereits existierenden kommerziellen oder staatlichen Station schließt sie nicht aus. Vorgemacht hat es vor drei Wochen ein Frauenkollektiv, das den Sender Canal 9 besetzte. Einige der Beteiligten sind an diesem Tag im Stadtzentrum unterwegs, um Leute zum Mitmachen einzuladen. Gern erzählen die Medienaktivistinnen immer wieder die Geschichte, wie auf einer Frauendemonstration spontan der Beschluss gefasst wurde, etwas gegen die täglichen schlechten Nachrichten zu unternehmen.

»Im Moment wird bereits wieder eine Reihe von Radio- und Fernsehprogrammen produziert«, erzählt eine der Frauen stolz. »Es liegt wohl auf der Hand, dass die Sendezeit offen genutzt wird, in kultureller Hinsicht, aber auch von sozialen Gruppen und indigenen Gemeinden – im Grunde genommen von jedem, der etwas zu sagen hat oder ein Programm vorschlägt.« Aldo González Rojas, der aus der Sierra Juarez angereist ist, hofft vor allem darauf, dass die indigene Bevölkerung sich weiterhin selbstbewusst zu Wort melden wird. »Ich bin Indigena, Zapoteke. Oaxaca ist ein überwiegend indigener Bundesstaat. Aber das spiegelt sich bisher weder in der Verfassung und den Gesetzen noch in der Politik wider.« Aldo ist überzeugt davon, dass die gegenwärtige Revolte nur dann Erfolg haben kann, wenn angesichts der sozialen Proteste auch die Lebensrealität der 16 ethnischen Gruppen berücksichtigt wird.

Langsam dämmert es. Auf dem Forum ist in der Zwischenzeit nicht allzu viel passiert, versichern die Vertreter des CIPO, die vor dem Eingang der Rechtsfakultät die Meldung des Tages diskutieren. Zwei Polizisten in Zivil mit Pistolen sollen unter den Versammelten aufgeflogen sein. Der jugendliche Sicherheitsdienst des sozialen Bündnisses, das »ehrwürdige Korps der Topiles«, hat sich ihrer angenommen. Je dunkler es auf der Straße wird, desto mehr Topiles mit ihren schwarzen Holzknüppeln sind an den Zugängen der Barrikaden zu sehen. Plötzlich ist die ausgelassene Stimmung des Nachmittags Diskussionen über den sichersten Weg nach Hause gewichen.

Die Mitglieder des CIPO lassen sich an diesem Abend lieber mit ihrem Pick-Up abholen, der sonst dazu dient, ländliche Gemeinden zu besuchen, die mit der Indigena-Organisation zusammenarbeiten. Vier Vertreter der Organisation stehen auf einer schwarzen Liste im Internet. Auch ihr Gemeindehaus im Stadtteil Santa Lucia ist nachts wiederholt von bewaffneten Gruppen bedroht worden. Im Moment schützt jedoch die Anwesenheit der jungen Nonne Monserat aus Katalonien den CIPO. Monserat ist mit ihrem Schutzbrief einer Menschenrechtsorganisation zu einem der wichtigsten Schlafgäste geworden. Für die engagierte Schwester ist das Gebot der Gewaltfreiheit kein Hindernis, die libertären Sozialarbeiter zu unterstützen: »Angesichts der Menschenrechtsverletzungen in Oaxaca vertrete ich die Position einer aktiven Gewaltfreiheit. Zwar bin ich grundsätzlich gegen den Einsatz von Waffen, aber bestimme Mittel sind einfach notwendig zur Selbstverteidigung und Durchsetzung kollektiver Forderungen.«

Es wird Zeit aufzubrechen, um einen Schlafplatz zu suchen. Schnell werden noch Adressen und Telefonnummern ausgetauscht und mögliche Unterkünfte in der Nähe sondiert. Die Schlafgelegenheiten auf der überdachten Veranda des von der Lehrergewerkschaft beanspruchten Hotels Marquis del Valle sind bereits alle belegt. Aber nach Regen riecht es ganz und gar nicht. Nur ein dezenter Benzingeruch von neben der Kirche gelagerten Wurfgeschossen liegt in der Luft. »Wir schreiben dir, wie es weitergeht«, versprechen Diana und ihr Kumpel Leonardo beim Abschied.

Schon drei Tage später kommt eine E-Mail von den beiden. »Canal 9 ist heute von Paramilitärs angegriffen worden. Die Sendetechnik und die Antennen wurden komplett zerstört. Wieder ist ein Demonstrant erschossen worden. Wir sind traurig und wütend, aber es sind bereits zwölf andere Sender besetzt worden. Die Besitzer der Stationen fordern nun den Einsatz der Bundespolizei. Wir hoffen mal das Beste, denn wer weiß schon, was hier als nächstes passiert. Grüße aus Oaxaca.«