Das Syndikat geht auf Sendung

Das Erste Hauptstadtkommando beherrscht die Gefängnisse im Bundesstaat São Paulo. Die Regierung versucht, mit Isolationshaft dagegen vorzugehen und stößt auf Widerstand. von astrid schäfers und thilo f. papacek, são paulo

Zwei Tage bevor die anderen Parteien damit beginnen durften, im Fernsehen ihre Werbe­spots für die Präsidentschaftswahl am 1. Oktober auszustrahlen, ging eine ganz besondere Partei auf Sendung: Das Erste Hauptstadtkommando (PCC), auch bekannt als »Partei des Verbrechens«, zeigte am 14. Au­gust mitten in der Nacht ein Video über TV-Globo, den größten brasilianischen Fernsehsender. Die Veröffentlichung des Videos war die Bedingung des PCC dafür, den Globo-Reporter Guilherme Portanova freizulassen, den es zwei Tage zuvor entführt hatte.

Nach langen Verhandlungen mit der Regierung des Bundesstaats São Paulo entschied sich TV-Globo dazu, das Video zu senden. Darin verliest eine maskierte Person ein Manifest für die Wahrung der Menschenrechte der Inhaftierten in Brasilien. Im Zentrum der Kritik der »Partei des Verbrechens« steht RDD, die verschärfte Einzelhaft, die offiziell als »differenziertes Disziplinarregime« bezeichnet wird.

Für dieses Haftsystem wurde eigens ein Gefängniskomplex in Presidente Bernardes gebaut, etwa 600 Kilometer von der Hauptstadt des Bundesstaats São Paulo entfernt. Im RDD werden die Gefangenen in winzige Zellen gesperrt und dürfen nur zwei Stunden pro Tag ans Tageslicht. Frische Luft schnappen dürfen sie nur auf separaten Balkonen, die den Zellen angeschlossen sind.

»Mit dem RDD soll die Sicherheit der Gesellschaft gewährleistet werden. Das Konzept verwechselt allerdings zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Eine Sache ist die Disziplin unter den Gefangenen, eine andere die Sicherheit der Gesellschaft«, sagt Sergio Martins Mazina vom Institut für Kriminalforschung der Jungle World. Er betrachtet das RDD als willkürliches Instrument: »Seine Anwendung erfordert einen schweren Verstoß gegen die Gefängnisordnung. Insofern ist es subjektiv auslegbar.«

Das Hauptstadtkommando ist jedoch keine Menschenrechtsorganisation, das neue Disziplinarregime ist vor allem ein praktisches Problem für die kriminelle Organisation. Aus der Einzelhaft können die Bosse des PCC nicht mehr ihre Befehle an die unteren Ränge weitergeben. Die Aktivitäten des Hauptstadtkommandos beschränken sich auf den Bundesstaat São Paulo. Im Mai diesen Jahres reagierte das PCC mit Gefängnisrevolten, Angriffen auf Polizeistationen und städtische Busse, als mehrere seiner Anführer, unter anderem Marcos Willians Herbas Camacho, genannt Marcola, nach Presidente Bernardes verlegt wurden (Jungle World, 21/06).

Dass das Hauptstadtkommando so gewalttätig auf die Isolierung seiner Anführer reagiert, liegt an seiner hierarchischen Struktur. Die Anführer geben normalerweise über eingeschmuggelte Mobiltelefone Befehle an die so genannten Piloten. Diese verwalten die Konten und erteilen den »Brüdern« Befehle. Außerdem sammeln die Piloten die Mitgliedsbeiträge ein. Während die inhaftierten Mitglieder zwischen 35 und 50 Reais (etwa 13 bis 20 Euro) monatlich an die Organisation zahlen müssen, beträgt die Summe für die Mitglieder außerhalb der Gefängnisse zwischen 500 und 750 Reais (etwa 190 bis 290 Euro). Wer nicht zahlt, muss gefährliche »Missionen« erledigen, zum Beispiel Raubüberfälle oder Geiselnahmen. Oder er wird umgebracht.

Die Existenzgrundlage des PCC sind die miserablen Haftbedingungen in den brasilianischen Gefängnissen. In vielen Haftanstalten bewacht der Staat nur noch die Ein- und Ausgänge und liefert Lebensmittel. Innerhalb der Zellen hat die Gefängnisverwaltung so gut wie keinen Einfluss. Dort beherrscht das Syndikat den Alltag und bietet seinen Mitgliedern Schutz, sowohl vor Mithäftlingen als auch vor den Wärtern. »Als ich ins Gefängnis kam, fehlte es mir an allem. Das PCC hat mir sehr geholfen«, erzählt Helio da Costa* der Jungle World. Während seiner anderthalbjährigen Haft wurde er zu einem »Cousin«. So heißen die Sympathisanten des PCC im Gefängnis, die keine Funktion erfüllen, aber den Schutz der Organisation genießen. Trotz dieser unwichtigen Position musste sich auch Helio einer »Taufe«, einer Aufnahmeprüfung, unterziehen. Dabei ließen die »Brüder« ihn durch zwei Reihen Spießrutenlaufen und verpassten ihm Hiebe und Tritte. »Mit dieser Methode wollen die überprüfen, ob du auch unter Folter keine Informationen preisgibst«, berichtet er.

Helio kam ins Gefängnis, weil er eine Supermarktlieferung geraubt hatte. Den Auftrag dazu gab ihm der Besitzer eines Konkurrenzunternehmens, der ihm die Ladung auch abkaufen wollte. Als er gefasst wurde, misshandelten ihn die Polizisten schwer. Für ein Bestechungsgeld und die Namen seiner Komplizen hätten sie ihn laufen lassen. Darauf ließ er sich aber nicht ein: »Wenn du mit der Polizei kooperierst, bringen die dich um.« Helio ist einer der wenigen, die es geschafft haben, aus dem PCC auszutreten. Inzwischen arbeitet er als Maler und besucht nebenher eine Abendschule in der Favela Campo Limpo.

Seine Lehrerin, Fernanda da Silva*, erzählt, dass die Organisation des PCC im Gefängnis ohne die Freundinnen und Ehefrauen der Inhaftierten nicht funktionieren würde. Während der Besuche schmug­geln sie Handys und Drogen in die Gefängnisse ein. »Wenn sich eine Frau einmal mit einem Mitglied des PCC eingelassen hat, ist sie für immer an ihn gebunden«, sagt sie. Jeder Versuch, sich der Beziehung mit dem Gangster zu entziehen, bedeute den Tod.

Außerhalb der Gefängnisse kontrolliert das PCC mittlerweile auch viele arme Viertel. In den Favelas treibt das Syndikat Schutzgelder von den illegalen Kleinbusunternehmen ein. Neben Raubüberfällen und Entführungen ist die wichtigste Einnahmequelle jedoch der Handel mit Marihuana und Kokain. In diesem Geschäft übernimmt die Organisation die riskante Aufgabe, die Drogen an die Konsumenten zu verkaufen. »Im Gegensatz zu dem, was in der Presse veröffentlicht wird, hat die Organisation keinen bedeutenden wirtschaftlichen Einfluss. Sie ist nicht fähig, große Reichtümer anzuhäufen«, sagt Mazina.

Seit den Anschlägen des Hauptstadtkommandos Mitte Mai sind die Forderungen in der Mittel- und Oberklasse São Paulos nach härteren Maßnahmen lauter geworden. Der oppositionelle Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Partei PSDB, Geraldo Alckmin, nutzt diese Stimmung und wirbt damit, dass als Gouverneur von São Paulo zum Aufbau des RDD-Systems beigetragen zu haben. Noch mehr Menschen in den ohnehin überfüllten Gefängnissen einzusperren, würde das PCC allerdings eher stärken. Denn den Inhaftierten bliebe kaum etwas anderes übrig, als den Schutz des Hauptstadtkommandos zu suchen.

* Name von der Redaktion geändert.