Die Macht der Regionen

In Bolivien ruft nun die alte Oligarchie zum Generalstreik auf. Eine Kampagne gegen Präsident Morales soll die Verfassungsreform blockieren. von benjamin beutler

Der Streik sei »nicht wichtig«, sagte Präsident Evo Morales, und eine Erklärung seiner Regierung verurteilte den Versuch »regionalistischer Oligarchien«, der Bevölkerung den Ausstand aufzuzwingen. Doch der 24stündige Generalstreik in den östlichen Provinzen Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando verursachte einen wirtschaftlichen Schaden von etwa 15 Millionen US-Dollar und führte zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Oppositionellen und Anhängern der Regierung. Die alte Oligarchie, die diese Proteste organisiert hat, will sich mit den neuen Machtverhältnissen nicht abfinden.

Evo Morales und seine Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) stehen ein halbes Jahr nach der Wahl vor schweren innenpolitischen Problemen. Nicht zuletzt, weil der Präsident viele seiner Wahlversprechen, die Verstaatlichung der Bodenschätze, die Agrarreform und die legislative »Neugründung Boliviens« durch die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung, schnell verwirklicht hat. Die sozialen Bewegungen sind überwiegend mit ihm zufrieden, doch die konservative und wirtschaftsliberale Oligarchie bekämpft ihn in den Institutionen und auf der Straße.

Der wichtigste Streitpunkt ist derzeit die formaljuristische Frage, welcher Abstimmungsmodus bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung gelten soll. Im »Gesetz zur Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung« heißt es: »Der Text der neuen Verfassung wird mit Zweidrittelmehrheit beschlossen.« Es ist jedoch unklar, ob von den einzelnen Artikeln oder vom Abschlusstext die Rede ist. Die Opposition fordert, dass bei allen Abstimmungen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich sein soll, denn so könnten ihre Wahlmänner tief greifende Veränderungen blockieren. Der MAS, der bei den Wahlen vom 2. Juli die angestrebte Zweidrittelmehrheit verfehlte, will der Oligarchie diese Möglichkeit nehmen. Deshalb vertritt die Regierung die Ansicht, für alle Entscheidungen vor der Schlussabstimmung sei die absolute Mehrheit ausreichend.

Die alte Oligarchie, ihre wirtschaftsliberalen Parteien und regionalen Bürgervereinigungen brandmarken Morales nun als indigenistischen Bonaparte, der die Regeln der Demokratie missachte, indem er die Minderheiten übergehe. Germán Antelo, Vorsitzender des mächtigen Komitees Pro Santa Cruz, einer Vereinigung von Geschäftsleuten und Großgrundbesitzern in der gleichnamigen ressourcenreichen Provinz, nennt den Verfassungsprozess ein »autoritäres und totalitäres Projekt« der Regierung. Unterstützt von den meisten privaten Massenmedien fordert die Opposition zudem von der Zentralregierung mehr regionale Selbstbestimmungsrechte. Die Oligarchie will die Verfassungsreform delegitimieren und den sozio-ökonomischen Wandel blockieren. Alle vier Provinzen, in denen gestreikt wurde, werden von oppositionellen Gouverneuren regiert. Die Dezentralisierung soll die bestehenden Machtstrukturen und auch die Konrolle über die Erdgasvorkommen sichern.

Für die Kampagne gegen Morales kann die Oligarchie die ihr verbliebenen Machtpositionen nutzen, der Ausstand wurde teils durch Repressalien gegen Streikunwillige durchgesetzt. Der einflussreiche Fernsehsender Telepaís feierte den Streik mit dem Motto: »Halb Bolivien gewinnt gegen Evo.« Es sei nun an ihm, über seine Politik nachzudenken, für eine weitere Eskalation sei allein er verantwortlich, sagt Antelo. Rubén Costas, der Präfekt von Santa Cruz, sieht Bolivien geteilt: »Es gibt zwei Länder, das produktive Boli­vien des Wachs­tums und der Demokratie: den Osten. Und das andine Bolivien: ausgrenzend, totalitär und radikal.« Zahlreiche Großgrundbesitzer haben öffentlich angekündigt, dass sie Milizen bewaffnen wollen. Möglicherweise wird sich die Oligarchie für eine sezessionistische Politik entscheiden.

Derzeit sucht sie internationale Verbündete. Argentinischen Medienberichten zufolge trafen sich oppositionelle Politiker in Buenos Aires mit US-Diplomaten und Vertretern der Ener­giekonzerne, die um ihre Investitionen in Bolivien fürchten. Die Regierung hat die Erdgasressourcen verstaatlicht und am Diens­tag der vergangenen Woche verfügt, dass alle Einnahmen zunächst an das staatliche Energieunternehmen YFPB (Yacimientos Petroliferos Fiscales Bolivianos) fließen. Zwei Tage später erklärte Vizepräsident Alvaro Garcia Linera, die Maßnahme werde »vorübergehend« wieder aufgehoben.

Die Erfolge der Verstaatlichungspolitik waren bislang dürftig. Energieminister Andrés Soliz Rada musste in einer von der Oppositionspartei Podemos beantragten Anhörung im Senat eingestehen, dass durch die vor mehr als 100 Tagen dekretierte Verstaatlichung bisher keine zusätzlichen Einkünfte für Bolivien erwirtschaftet werden konnten. Es sei ein Fehler gewesen, dass man im Mai angekündigt habe, das Unternehmen YFPB würde binnen 60 Tagen seine Umstrukturierung abgeschlossen haben.

Das ist zum Teil eine Folge fehlender finanzieller Mittel und mangelnder Erfahrung, doch auch die Energiekonzerne, vor allem die brasilianische Petrobras und die spanische Repsol, wollen mit psycho­logischem, politischem und wirtschaftlichem Druck eine Rücknahme der Verstaatlichung erzwingen oder es zumindest verhindern, dass ihre Profite allzusehr gemindert werden. In knapp einem Monat soll die entscheidende Etappe des Verstaatlichungsprozesses beginnen, die Neuverhandlung der Förderverträge zwischen dem Staat und den privaten Unternehmen.

Wirtschaftlich unter Druck gesetzt wird Bolivien auch von den USA. Deren Regierung droht mit der Einstellung der Wirtschaftshilfe, die immerhin zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, sollte Morales in der Drogenpolitik nicht ihren Vorgaben folgen. Morales möchte George W. Bush nun »einige Wahrheiten über die Menschenrechte« erklären, doch eine Konfrontation will die bolivianische Regierung offenbar vermeiden. Vizepräsident Linera will in Washington lieber über die Handelsbestimmungen für Textilien und Agrarprodukte verhandeln.

In der Auseinandersetzung mit den innen- und außenpolitischen Gegnern scheinen sich Morales und die MAS jedoch auf die sozialen Bewegungen stützen zu können. Deren Vertreter äußerten sich bei einem Treffen mit Morales und dem Vizeminister für die Koordination mit den sozialen Bewegungen, Alfredo Rada, zufrieden über die neue Regierung. »Er hat in sechs Monaten das geschafft, was anderen Präsidenten in fünf Jahren nicht gelungen ist«, sagt Valentina Coria, Delegierte des Bundes der Bauernfrauen von La Paz. Und der Vorsitzende des Nationalrats der Ayllus und Marqas (indigene Kommunen) lobt die Zusammenarbeit mit der MAS: »Nicht eine Regierung hat uns je gerufen, immer haben sie isoliert gearbeitet, nun partizipieren wir direkt.«