Auch Diebe tun was

Die sozialen Bewegungen sind vom brasilianischen Präsidenten Lula enttäuscht. Viele Linke haben die Arbeiterpartei verlassen, die sich für die Wahlen am 1. Oktober mit den Konservativen verbündet hat. von thilo f. papacek, belo horizonte

Alle Affären scheinen von ihm abzuperlen wie Wasser vom Rücken einer Ente. Der brasilianische Präsident Luis Inácio Lula da Silva hält es kaum noch für notwendig, sich von den diversen Skandalen zu distanzieren, in die etliche Mit­glieder seiner Arbeiterpartei (PT) verwickelt sind. Erst am Montag der vergangenen Woche verhaftete die Bundespolizei Lulas Assessor Freud Godoy, dem vorgeworfen wird, ein gefälschtes Dossier, das die Opposition der Korruption beschuldigt, an die Presse verkauft zu haben. Den Präsidenten scheint dies nicht zu berühren. Er tut so, als ob er schon gewählt worden sei.

Alle Umfrageergebnisse bestätigen Lulas Optimismus. Dem Meinungsforschungsinstitut Datafolha zufolge wollen etwa 50 Prozent aller Befragten ihn wählen. Bekäme Lula am 1. Oktober die absolute Mehrheit der Stimmen, würde er bereits im ersten Wahlgang in seinem Amt bestätigt werden.

Sein wichtigster Kontrahent, Geraldo Alckmin von der Brasilianischen Sozialdemokratischen Partei (PSDB), möchte wenigstens das verhindern. Ihm sprechen die Umfragen 28 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang zu. Alckmin verurteilt in seiner Kampagne vor allem die Korrup­tion, die im Parlament dieser Legislaturperiode besonders verbreitet zu sein scheint.

Neben der Affäre um den mensalão, monatliche Zahlungen an Parlamentsmitglieder, mit denen enge Vertraute Lulas die nötigen Stimmen für Gesetzesvorhaben kauften ( Jungle World, 34/05), machen »Blutegel« der Regierung zu schaffen. So wurde in den Medien eine Gruppe von Parlamentsabgeordneten genannt, die den Verkauf von überteuerten Ambulanzwagen des Unternehmens Planam an ihre Kommunen organisierten. Kaum ein Tag vergeht, an dem der Parlamentarische Untersuchungsausschuss nicht einen weiteren Abgeordneten vor das Tribunal zitiert. Lula behauptet aber weiter, von beiden Affären nichts gewusst zu haben.

Als Bündnispartner hat sich der PT eine Partei ausgesucht, die seit längerem für ihre Korruption bekannt ist. Die Arbeiterpartei bildet eine Koalition mit der konservativen Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB), die aus einer in den sechziger Jahren vom damaligen Militärregime gegründeten pseudo-oppositionellen Partei hervorgegangen ist. Auf Bundesebene verliert der PMDB konstant an Einfluss, doch auf lokaler Ebene ist er noch sehr stark. Ihm gehören vor allem Unternehmer und Großgrundbesitzer an, die über Klientelstrukturen ihre Macht wahren. Viele Politiker des PMDB geben sich als hemdsärmelige Führer, die zwar reich und korrupt sind, aber mit ihrer Macht das Volk beschützen. Der ehemalige PMDB-Gouverneur von São Paulo, Paulo Maluf, brachte diesen Populismus vor ein paar Jahren mit einem Wahlspruch auf den Punkt: »Ich stehle, aber ich tue etwas!«

Früher waren die Mitglieder des PT die schärfsten Kritiker des PMDB, doch nun stellen die beiden Parteien gemeinsame Kandidaten auf. Denn am 1. Oktober wählen die Brasilianer nicht nur ihren Präsidenten, sondern auch jeweils einen neuen Senator pro Bundesstaat für den Kongress, die Abgeordneten des Parlaments, die Gouverneure der Bundesstaaten sowie die legislativen Versammlungen der Bundesstaaten.

Die Koalition mit dem konser­vativen PMDB hat auch Konsequenzen für die Politik der Arbeiterpartei. Viele linke Bewegungen, die einst den PT unterstützten, sind von der Regierung Lula enttäuscht. Große strukturelle Veränderung hat der Präsident in den vergangenen vier Jahren sicherlich nicht auf den Weg gebracht. Die Finanzpolitik Lulas konzen­trierte sich vor allem auf die Währungsstabilität und wahrte einen hohen Haushaltsüberschuss, um die Auslandsschulden des Landes bedienen zu können. Damit unterschied sie sich kaum von der seines Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso von dem PSDB.

Wegen dieses Wandels des PT und der bürgerlichen Regierungspolitik haben viele Mitglieder die Partei verlassen und den P-SOL (Sozialismus und Freiheit) gegründet. »Ich bin nicht aus dem PT ausgetreten, der PT ist aus sich selbst ausgetreten. Wenn Paulo Maluf und andere korrupte Politiker vom PMDB an der Seite von Lula stehen, kann ich nicht an seiner Seite stehen«, sagte P-SOL-Mitglied Marcelo Freixo der Jungle World. Er kandidiert für die legislative Versammlung im Bundesstaat Rio de Janeiro, wo er vor allem Menschenrechtsgruppen und Bewegungen zur Bekämpfung der Polizeigewalt repräsentieren möchte.

Präsidentschaftskandidatin des P-SOL ist die Senatorin Heloisa Helena. Der Umfrage von Datafolha zufolge wird sie etwa neun Prozent der Stimmen erhalten. In ihren Reden kritisiert sie vor allem den hohen Haushalts­überschuss, »mit dem nur die Bankiers bevorteilt werden«, wie sie sagt. Freixo glaubt nicht, dass die Kritik des Finanzsystems ausreicht, um die enorme soziale Ungleichheit in Brasilien zu bekämpfen. Er hält den P-SOL vor allem für ein Instrument, um den Widerstand gegen das kapitalistische System zu organisieren. »In diesen Wahlen steht nicht das kapitalistische System zur Debatte. Aber einige Sachen können wir, müssen wir bereits jetzt ändern. Und dass das Finanzkapital in so unglaublichem Maße in Brasilien privilegiert wird, lässt sich jetzt bereits ändern«, meint Freixo.

Doch weshalb führt Lula trotz dieser vielfältigen Vorwürfe die Meinungsumfragen an? Franklin Martins ist ein sowohl von Linken als auch Konservativen anerkannter Analytiker im brasilianischen Fernsehen, obwohl er bekennender Kommunist ist. In einem längeren Interview mit der linken Monatszeitung Caros Amigos sagte er, dass in den vergangenen fünf Jahren die ärmeren Schichten aufgehört haben, der Mittelschicht zu folgen: »Wie ein Stein, der in einen See fällt und Wellen schlägt, die sich ausbreiten, gab früher die Mittelklasse die politische Meinung vor, die sich über die anderen Klassen ausbreitete.« Damit sei es nun vorbei. Genauso wenig wie die Mittelklasse glauben die ärmeren Brasilianer Lula, dass er von der Korruption nichts gewusst hätte. Doch durch die Hilfe von Sozial­programmen und wegen der Tatsache, dass Grundnahrungsmittel billiger geworden sind, geht es vor allem armen Brasilianern besser als vor vier Jahren. Deshalb werden die Armen Lula wieder wählen, aber die Mittelklasse nicht, meint Martins.

Tatsächlich sind in Brasilien, wo Politiker allgemein und häufig nicht zu Unrecht unter dem Verdacht stehen, »zu stehlen«, also korrupt zu sein, die Vorwürfe gegen den PT nicht einmalig. Die Bevölkerung kennt solche Praktiken auch von anderen Parteien, und viele erwarten auch gar nichts anderes mehr. Es genügt, wenn die Mehrheit der brasilianischen Wähler glaubt, dass Lula zwar stiehlt, aber auch etwas tut.