Ach, was sind wir verrückt

In São Paulo feiern junge und alte Alternative jedes Jahr ausgelassen die brasilianische Hippie-Legende Raul Seixas. von thilo f. papacek (text und fotos)

Es ist nicht zu erkennen, wem sie eigentlich zujubeln. »Ra-ul! Ra-ul! Ra-ul!« Aus 1 000 Kehlen gellt der Ruf über den Praça da Sé in São Paulo und hallt von den vernachlässigten Bürogebäuden zurück. Die Luft auf dem von Palmen gesäumten Platz vor der Kathedrale im alten Zentrum der Stadt ist erfüllt vom Geruch von Marihuana. Menschen unterschiedlichen Alters ließen sich von der Kälte der Winternacht nicht abhalten, ihrem Idol zuzujubeln. »Viva! Viva! Viva a sociedade alternativa!« rufen die Leute, die sich auf der Treppe zum neogotischen Portal des Doms drängen. Nirgends ist ein Zentrum in der Masse zu entdecken, die Sprech­chöre entstehen immer wieder spontan in kleinen Grüppchen und werden von anderen Pulks aufgenommen und weitergetragen.

»Raul ist in uns, in jedem von uns, der hierher gekommen ist. Raul Seixas ist fast eine Religion, aber gleichzeitig ist diese Bewegung auch das Gegenteil davon, ganz spontan, nicht hierarchisiert«, erklärt Cazuza. Er trägt eine Sonnenbrille, die langen Haare hält er mit einem Stirnband aus seinem hageren Gesicht. Mit seinen 54 Jahren sieht er aus wie das Klischee eines gealterten Hippies. »Durch diese Verbrüderung, die du hier siehst, bleibt Raul am Leben. Dadurch retten wir Rauls Traum von einer Welt in Harmonie, den Traum einer alternativen Gesellschaft, der fast in Vergessenheit geraten ist.«

Raul Seixas, geboren 1945 in Salvador da Bahia, gestorben am 21. August 1989 in São Paulo, gilt als der Pionier des Rock’n’Roll in Brasilien. Seine ersten Erfolge feierte er in den siebziger Jahren. Er war das Symbol für das Aufbegehren der Jugendlichen gegen die Militärdiktatur, die von 1964 bis 1984 das Land regierte. Nach der »bleiernen Epoche«, wie die Zeit der härtesten Repression von 1968 bis 1974 in Brasilien genannt wird, lockerte sich die Zensur etwas. Die neue Generation verlangte nach einer Veränderung. Sie hatte auch die Sterilität einer rigiden Kulturpolitik satt, die nur Samba und Bossa Nova anzuerkennen schien. Und Raul Seixas erfüllte dieses Bedürfnis nach etwas anderem.

Seit 1990 versammeln sich jedes Jahr überall in Brasilien Fans von »Raulzito« an seinem Todestag, um seiner zu gedenken. Doch die »Demo von Raul« in São Paulo ist die größte dieser Gedenkpartys. Cazuza, der seinen richtigen Namen lieber nicht in einer Zeitung lesen möchte, hat das Gedenken nicht ein einziges Mal verpasst. Er organisiert diese »Demonstration« mit. Angemeldet ist sie nicht, doch toleriert die Polizei das harmlose Treiben. »Jedes Jahr kommen neue Fans, es werden immer mehr! Das ist gut, das ist sehr gut, das ist bom demais, zu gut!« kommentiert er.

Erneut bricht Jubel aus, diesmal besonders stark. Ein trio elétrico, ein Lastwagen, auf dessen Laderaum riesige Boxen befestigt sind, über denen eine Minibühne thront, fährt vor die Kathedrale. Wessen Musik gespielt wird, ist klar. »Porque eu sou malouco beleza« – »Denn ich bin so wundervoll verrückt«, singen die Fans den Refrain eines der bekanntesten Lieder mit. Erstaunlich agil für sein Alter, kämpft Cazuza sich durch die Menge und steigt auf die Plattform des Gefährts, um sich die Party von oben anzusehen.

Tatsächlich dominieren aber die Jüngeren, etwa 20jährigen das Bild. Fast alle haben sich als Hippies zurecht gemacht. Manche haben Rastas, nur einige Jungs lange Haare. Für die meisten hier ist der Kult um Raul Seixas ein Feierabendvergnügen, nur mit »ordentlichen« Haaren haben die Jugendlichen aus den Vororten Chancen auf einen Job. Sie müssen auf handgemachten Schmuck aus Federn und Samen tropischer Früch­te und bunte Tücher zurückgreifen.

Gekauft haben sie den Schmuck von den Kunsthandwerkern und -handwerkerinnen, die auch hier überall auf kleinen Brettern ihre selbst gebastelten Ringe, Ketten und Marihuanapfeifen anbieten. Einige verkaufen Raul-Seixas-Figuren aus Plastilin, die Joints halten und Rauch ausstoßen können. Sie sind von seinen besten Fotos inspiriert, auf denen er aussieht wie eine Mischung aus Jimi Hendrix und John Lennon. Wie die Bierverkäufer, die sich mit ihren Handkarren durch die Menge quälen, machen die Kunsthandwerker heute einen besonders guten Gewinn.

Einer der Kunsthandwerker steht symbolisch mit auf der Plattform des trio elétricos, denn die artesanos gehören zum Raul-Seixas-Kult wie Marihuana und halluzinogene Pilze. Im Sommer bevölkern diese Lebenskünstlerinnen und Lebenskünstler die Strände Brasiliens, an denen die Familien der Mittelklasse ihren Urlaub verbringen. Dort bieten die artesanos ihren Schmuck feil und organisieren Strandpartys mit Teenagern, die von ihren Eltern gelangweilt sind. Die Kunden verbringen viel Zeit mit den Verkäufern. Die Kleinbürgerkinder können so wie richtige Aussteiger leben, wenn auch nur während der Ferien. Die artesanos leben das Maximum an Freiheit aus, das für die weniger wohlhabenden Schichten Brasiliens erreichbar ist, mit allen Nachteilen wie fehlender Gesundheitsversorgung und unregelmäßigem Einkommen. Aber da sie nirgends gebunden sind, kommen sie auf jeden Fall mehr herum als diejenigen, die sich für Beruf und Familie entscheiden.

Das erklärt wohl auch den Reiz, den Raul Seixas insbesondere auf Jugendliche der unteren Mittelklasse Brasiliens ausübt. Er steht für diese Ungebundenheit, für diese »wundervolle Verrücktheit«, kein Leben in der Fabrik oder als Supermarktangestellte anzustreben. »Raul Seixas war Anarchist, er war gegen diesen Wahn, immer reicher werden zu wollen und ständig zu arbeiten«, schreit die 20jährige Larissa gegen die Musik an, um ihre Leidenschaft für Raul zu erklären. Sie wird von einem Freund auf den Schultern durch die Menge getragen, und schon tanzen sie wieder davon.

Auch wenn Raul Seixas als Rebell galt, stand er während der Militärdiktatur zwischen Subversion und Anpassung. Da er sich für eine »alternative Gesellschaft« aussprach und im Bundesstaat Minas Gerais eine okkultistisch-anarchistische Kommune gründen wollte, wurde er vom militärischen »Department für politische und soziale Ordnung«, dem gefürchteten DOPS, 1974 verhaftet und gefoltert. Er ging ins Exil in die USA, kehrte aber noch im selben Jahr nach Brasilien zurück, da sich seine Platte »Gita« über 600 000 Mal verkauft hatte. Seine dadurch erlangte Popularität machte ihn fast unantastbar, selbst für die Militärs. Obwohl Seixas immer wieder mit kritischen Kommentaren auffiel, waren die herrschenden Generäle ganz froh, dass sich die Unzufriedenheit der Jugendlichen in der Musik und nicht in der Stadtguerilla, wie in den Jahren zuvor, artikulierte.

»Raul Seixas war ein ganz normaler Typ aus einfachen Verhältnissen, er sagte normale Dinge, aber er hatte einen universellen Kopf, er verstand sehr viel, wenn auch eher intuitiv. Er stellte die Existenz infrage, das, was wir alle gemein haben. Und ich glaube, das spricht die Leute an. Manche fühlen sich von den Texten angesprochen, andere von der Musik, wieder andere von der Person, denn er war ein interessanter Charakter«, erzählt Marcio Ribeiro. Er scheint etwas abgeklärter zu sein als die anderen Fans, die fast außer sich sind. Doch aus seinem leicht ergrauten Bart lächelt er immer wieder schelmisch-zufrieden, wenn er sich das Treiben ansieht. Marcio ist Dichter, mit anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern versucht er, ein Literaturhaus am Rooseveltplatz aufzubauen. Dort existieren bereits einige linke und schwul-lesbische Theater.

»Raul Seixas war ein Philosoph. Er hat verstanden, wie die Menschen in Frieden zusammenleben können. Wir müssen aufhören, immer an die Zukunft zu denken. Wir müssen im Hier und Jetzt leben«, sagt Marcios Kumpel Arildo Lima. Sein Blick unter der Lockenmähne ist etwas fahrig. Auch er arbeitet am Projekt für das Literaturhaus mit. 2002 hat er zu einem Gedichtband beigetragen, der von der Stadtverwaltung von Diadema, einem Vorort von São Paulo, finanziert wurde. In einem Gedicht beschreibt er seine Vorstellung eines primitiven Kommunismus. »Sechshundert und dreißigtausend Jahre vor unserer Zeit, am See Tiberias«, heißt es darin, »haben alle viel gegessen, wenn es viel gab, und wenig, wenn es wenig gab.« Den Gedichtband will er mir auf keinen Fall verkaufen. Aber gegen eine Flasche billigen Weins, der mit Zuckerrohrschnaps versetzt ist, würde er ihn tauschen.

Solch ein Fläschchen habe ich nicht, doch schon winkt Ardilo einen fliegenden Händler herbei, von dem ich das Getränk kaufen kann. »Geld ist furchtbar. Ohne Geld wäre die Welt besser. Früher haben die Leute nur getauscht, so wie wir jetzt«, raunt Ardilo, während der Straßenverkäufer geduldig auf seine Bezahlung wartet und mit skeptischer Miene den Dichter aus den Augenwickeln ansieht. »Auch Raul wollte eine Welt ohne Geld«, sagt er und bietet mir von dem unglaublich süßen Fusel an. Mir fällt nichts Besseres ein, als »Auf Raul!« zu sagen und einen Schluck zu nehmen. »Auf Raul!« antwortet Ardilo begeistert und nimmt auch einen kräftigen Schluck. Ein Foto lässt er nicht von sich machen. »Ich bin wie ein Indianer. Fotos rauben mir die Seele. Wir sollten uns mit dem Herzen erinnern, nicht mit der Technik«, erklärt er seinen Standpunkt. Dafür sind die anderen Fans begeistert, wenn man sie fotografiert. Etliche tragen T-Shirts mit okkulten Zeichen, die sie von den Plattencovers ihres Idols haben.

Raul Seixas hat viel mit Esoterik und Okkultismus herumgespielt, insbesondere nachdem er den Schriftsteller Paulo Coelho kennen gelernt hatte, mit dem er einige Texte gemeinsam schrieb. Er las Aleister Crowley, ließ sich mit Zauberhut auf seinen Platten abbilden. Doch wollte er den Kram nie so richtig ernst nehmen, in seinen Texten überwiegt das ironische, spielerische Element. Der Obskurantismus diente ihm eher als psychedelische Spielerei. »Für mich war es auch eine Möglichkeit, berühmt zu werden. Es wurde mein Markenzeichen, mein Trampolin zum Erfolg«, sagte Raul Seixas einmal einem Journalisten. Wegen dieser mangelnden Ernsthaftigkeit in spirituellen Belangen trennte sich Coelho 1976 wieder von Seixas, obwohl sie nie ganz den Kontakt abbrachen. Während Paulo Coelho weiterlebte, um mit esoterischen Kitschbüchern Multimillionär zu werden, soff sich Raul Seixas, wie es sich für einen Rock­star gehört, zu Tode.

»So was wie hier wird nie für die Helden des Bossa Nova oder der brasilianischen Popmusik gemacht. Du siehst keine Menschenmenge, die sich in Gedenken an Chico Buarque oder Tom Jobim spontan versammelt. Deren Gedenken wird von der Politik gefördert. Wir machen das alles selber«, erklärt Ardilo. Zwar ist Raul Seixas in ganz Brasilien bekannt und als wichtiger Musiker anerkannt, dennoch gilt er als Rebell. Ihn umgibt immer noch die Aura des schwarzen Schafs in der brasilianischen Musikgeschichte.

Im Club Sarajevo, in der Nähe des modernen Geschäftszentrums von São Paulo um die Avenida Paulista, sehe ich einen Jungen in einem T-Shirt mit der Aufschrift: »Die Leute sagen, Rock­musiker würden den Teufel anbeten. In Wirklichkeit wird in der Hölle den ganzen Tag Música Sertaneja und Pagode gespielt.« Sertaneja ist die brasilianische Version von Countrymusik, Pagode eine Popver­sion von Samba. Zusammen sind sie die meistverkauften Musikrichtungen Brasi­liens. In den Vierteln der ärmeren Schichten ist der Sound von Sertaneja und Pagode omnipräsent. Aus jeder Bar, aus jedem Musikgeschäft schallen in unglaublicher Lautstärke die kitschigen Texte, begleitet von Synthesizern.

Im Sarajevo gibt es drei Tanzflächen. Auf keiner wird Sertaneja oder Pagode gespielt. Auf der einen treffen sich die Freunde des Dark Wave, auf einem anderen können sich die Besucherinnen dem monotonen Rhythmus von Trancemusik hingeben. Daneben gibt es noch ein paar Bars, in denen es nicht so laut ist und wo man sich in Ruhe kennenlernen kann.

Auf der Haupttanzfläche allerdings werden Reggae und Rock, sowohl internationaler als auch brasilianischer, gespielt. Vorher trat hier eine Manguebeat-Band auf. Sie spielte einen Crossover aus traditionellen Rhythmen aus dem Nordosten Brasiliens mit Rock- und HipHop-Einflüssen. Doch inzwischen hat die Band ihren Auftritt beendet, und die Musik kommt von der Schallplatte.

Je später der Abend, desto älter die Musik, so hat es den Anschein. Ab zwei Uhr legt der DJ schon mal Nirvana auf. Später kommen noch Led Zeppelin und Jimi Hendrix hinzu. Raul Seixas darf bei einer solchen Zusammenstellung in Brasilien nicht fehlen. In Europa würde man bei dieser Musik nicht so viele junge Leute auf der Tanzfläche erwarten. Aber auch hier sind nicht alle zufrieden. Ein Gast stöhnt nur: »Warum wird in Brasilien immer nur alte Musik aufgelegt?« Junge Rockbands haben es schwer in Brasilien. Es gibt einige, die es geschafft haben und immer wieder gespielt werden. Ein neuer Raul Seixas, der gegen die Flut von Pagode und Sertaneja ankäme, ist aber nicht in Sicht.