Altern mit Würde

Punk ist die einzige Jugendkultur, in der das Alter keine Rolle spielt. von joachim hiller

Als ich 1984 begann, Punk zu hören, war 1976 gerade mal acht Jahre her, die Akteure von ’77 sahen alle noch mehr oder weniger frisch aus als Mitt- bis Endzwanziger, und ja, man konnte von Punk guten Gewissens als »Jugendkultur« reden.

22 Jahre später sieht das anders aus. Punk ist 2006 nicht 30 Jahre alt geworden, sondern 62 (Charlie Harper, UK Subs), 59 (Iggy Pop, The Stooges), 57 (Sylvain Sylvain, New York Dolls), 56 (Rob Younger, Radio Birdman), 48 (Jello Biafra, Dead Kennedys) oder 44 (Cam­pino, Die Toten Hosen). Ich selbst bin 38, habe ein mit 20 Jahren gegründetes Fanzine schon vor zehn Jahren zum Lebensinhalt und -unterhalt gemacht, zelebriere alle zwei Monate erneut eine Jugendkultur, deren allermeiste Akteure ihre Adoleszenz längst hinter sich haben, aber nicht von der Musik, der Attitüde lassen können, die sie in den Teen-Jahren in ihren Bann zog.

Natürlich, die Mitläufer, die Flaschenzerschmeißer, die ganz lauten Großmäuler sind bald erwachsen geworden, haben ihre Jugend längst auf dem Flohmarkt oder via eBay verkauft, brüsten sich heute höchstens noch spät abends unter Kollegen beim Abenteuergeschich­ten-Erzählen damit, einst, uiuiuiui!, »Punk« gewesen zu sein. Wie verrucht, wie gefährlich! Und ja, es soll wohl die Reaktion hervorrufen: Seht her, aus mir ist trotzdem was geworden!

Die Realität für all jene, die Punk als Geisteshaltung verstehen, ist eine andere: Ganz gleich, ob man sich als »Prekärer« mit abgebrochenem Studium so durchschlägt, ob man nach zweitem oder drittem Bildungsweg heute als Ex-Sänger einer legendären Band als Sozialpädagoge mit Problemkids arbeitet, als Arzt mit Familie Nachtschichten im Krankenhaus schiebt, sich als Lehrer hat verbeamten lassen oder eben nach 25 Jahren immer noch jedes zweite Wochenende mit seiner Band auf einer Bühne steht – unter Eingeweihten erkennt man sich, ohne dass es irgendeines speziellen Handschlags bedürfte.

Alte Punks mögen ihr Äußeres den gesellschaftlichen und beruflichen Erfordernissen angepasst haben, binden nicht jedem neuen Bekannten oder Kollegen gleich auf die Nase, was man von ihrem Musikgeschmack, ihrer Weltsicht hält, haben sich aber so ein gewisses Grundmisstrauen bewahrt: Mit »Spießern« muss man eben auskommen, man wird nicht gleich selbst zu einem, nur weil man sich (beliebige Ausrede hier einfügen) dann doch auch mal ein neues Auto leistet. Man ist bereit, in der Firma Verantwortung zu übernehmen, hat gar selbst aus einem Szenehintergrund heraus eine Firma aufgebaut, versucht, im falschen ein richtiges Leben zu leben, hat – das ist der entscheidende Punkt – nicht aus Opportunismus seine Ideale früh geopfert, sondern versucht, möglichst viel davon zu bewahren.

Welche Ideale eine Jugendbewegung hat, die einst auf »No future« reduziert wurde? »Punk ist: Mach dein Ding, steh dazu«, so formulieren es Die Ärzte. »No gods, no mas­ters«, hieß es aus der britischen Peace-Punk-Szene der frühen Achtziger, »Für ein selbstbestimmtes Leben!« lautet eine andere Forderung. Misstrauen gegenüber Autoritäten, Hierarchien nicht einfach zu akzeptieren, Sexismus und Homophobie zu verabscheuen, das Maul aufzumachen, wenn andere gegen Randgruppen hetzen, aber auch mal zu polemisieren und seinen Spaß zu haben – das macht Punk aus, jenseits von Dresscodes, Frisuren und den alten (und neuen) Platten. Dabei unterscheiden sich Punks von den Friedensbewegten und Hippies, die sich bis heute an den Hakenkreuz-Provokationen der Sex Pistols abarbeiten, in ihrer Bereitschaft zur Schär­fe in der Auseinandersetzung, aber auch in der Einsamer-Wolf-Attitüde, einer gewissen Derbheit im Umgang miteinander.

Punk ist die einzige Jugendkultur, in der das Alter keine Rolle spielt. Die Ka­nadier von NoMeansNo, seit 1979 da­bei und angeführt vom längst komplett ergrauten Brüderpaar Rob und John Wright, erfreuen sich in letzter Zeit auf Touren in Nordamerika eines Publikums von um die 20, die alten englischen und deutschen Punk-Veteranen ziehen bei ihren Festival-Auftritten nicht nur je­ne an, die sie vor 20 oder gar 30 Jahren schon sahen, sondern reichlich 16, 17, 18 Jahre alten Nachwuchs. Punk, das ist das Geheimnis, ist alterslos, die Werte, die man teilt, sind universell, und im Zweifelsfall ist die Bewunderung der Jungen dafür, dass jemand über 40 »ihren« Lebensstil, den sie gerade erst für sich entdeckt haben, so lange und konsequent durchgezogen hat, größer als mögliches Misstrauen gegenüber einem, der im Alter ihrer Eltern und Lehrer ist. Daher: »I said: Punk Rock ist nicht tot!«, um mit Billy Childish, Jahrgang 1959, einen weiteren alten Sack zu zitieren.

Joachim Hiller ist Chefredakteur des Ox-Fanzines: www.ox-fanzine.de