Auf dem Sozialtrip

Die Sonderrolle Jürgen Rüttgers’ von richard gebhardt

»Eine große Sauerei« nannte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) die angekündigte Schließung des BenQ-Werkes in Kamp-Lintfort vor den erbosten Mitarbeitern. Ein knappes Jahr zuvor, als die Siemens AG ihre Handyproduktionsstätte an den taiwanesischen Großkonzern verkaufte, war die Belegschaft noch unter den Augen der Landesregierung mit dem Versprechen des Erhalts von Arbeitsplätzen zum Preis von Lohnverzicht geködert worden. Heute ruft Rüttgers, der sich gerne als der »Vorsitzende der Arbeiterpartei in Nordrhein-Westfalen« sieht, der Menge trotzig zu: »Wir werden kämpfen!«

Schon als sich der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Klaus Kleinfeld, kürzlich eine 30prozentige Anhebung seines Managergehalts gönnte, blickte Rüttgers argwöhnisch auf die dortige Geschäftspolitik. »Es darf sich nicht der Eindruck aufdrängen, dass einige immer mehr verdienen, während andere um ihre Existenz bangen müssen«, erklärte er im Interview mit der Welt. »Das Soziale darf nicht zu einer Randgröße werden«, setzte Rüttgers den marktradikalen Tönen in der Union entgegen.

Allerlei »Lebenslügen« in den eigenen Reihen hatte der Ministerpräsident bereits im August entdeckt, so die beliebte Vorstellung, »dass niedrige Steuern zu mehr Arbeitsplätzen führen«. In manchen konservativen Kreisen sorgte dies für Betretenheit. Was in den vom globalen High-Tech-Kapitalismus gebeutelten Krisenregionen die Spatzen von den Dächern pfeifen, ist für viele mit den einschlägigen Think Tanks des Kapitals verbandelte Unionspolitiker eine Zumutung. »Abwegig« nannte zum Beispiel der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) die Aussage seines Kollegen.

Insbesondere beim Wunschpartner für künftige Koalitionen findet das von Rüttgers geforderte stärkere sozialpolitische Profil wenig Zustimmung. »Wer von der Wirtschaft verlangt, mehr Menschen zu beschäftigen, als für die Wertschöpfung erforderlich sind, der bewegt sich in Richtung DDR«, konterte der Generalsekretär der nordrhein-westfälischen FDP, Christian Lindner. Doch bei denjenigen, die am unteren Ende der Wertschöpfungskette stehen, verdichten sich angesichts von Massenentlassungen bei gleichzeitigen Milliardengewinnen die Zweifel am herrschenden Credo in der Volkswirtschaftslehre. »Die Gewinne von heute sind die Rationalisierungsinvestitionen von morgen und die Arbeitslosen von übermorgen«, lauten die harten ökonomischen facts of life für die »freigesetzten« Lohnabhängigen. Politische Apathie ist die Folge.

Im Bundestagswahlkampf 2005 hat die Union sämtliche Floskeln der neoliberalen Glaubensgemeinschaft runtergebetet und nach einem glänzenden Start beinahe gepatzt. Rüttgers’ Protest gegen das Geschäftsgebaren der Global Players und seine Intervention in der Grundsatzdebatte der Partei ist eine Antwort auf die programmatische Krise seit dem knappen Wahlausgang im vergangenen Herbst.

Doch die Kampfansage von Kamp-Lintfort wirkt deplatziert, unterstellt sie doch die Wirkungsmacht einer Politik, die sich blind an die »Sachzwänge« des Weltmarkts ausgeliefert hat. Diese gelten der Führung der CDU seit dem Leipziger »Reformparteitag« als »alternativlos«; dagegen das Primat der Politik zu propagieren, scheint für viele im Führungspersonal von Merkels CDU eine Illusion. Wahrscheinlich ist, dass Rüttgers’ Kampf in NRW so ausgeht wie Gerhard Schröders »Rettung« des Bauunternehmens Holzmann. Spätestens dann muss sich der »Vorsitzende der Arbeiterpartei« den Kopf über weitere »Lebenslügen« zerbrechen.