Die Dialektik des Stillstands

Große Koalition damals und heute von ivo bozic
Von

Zwischen 1969 und 2005 lagen immerhin 36 Jahre. 36 Jahre, in denen Deutschland nicht von einer Großen Koalition regiert wurde. In dieser Zeit hat sich viel verändert: Die Floppy Disk zur Datenspeicherung wurde erfunden und wieder vergessen, Lolo Ferrari kam zur Welt und verließ sie wieder, die RAF entstand und hörte wieder auf – alles ist anders heute. Nicht jedoch das Wesen einer Großen Koalition. Und es kam ja auch, wie es kommen musste. Nach dem anfänglichen Durchpeitschen einiger Projekte geriet die Sache ins Stocken, und schließlich droht dem Land eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Parteien und, wovor alle gewarnt hatten: der Stillstand.

Nun gibt es Schlimmeres, als wenn Parteien ein schlechtes Bild abgeben und sich zudem wechselseitig lähmen und ihre Reformprojekte, von denen eins schlimmer als das andere ist, gegenseitig sabotieren. Im Grunde ein Segen, das Beste, was uns passieren kann. Bestätigt wird das anscheinend durch Aussagen von Unternehmern, wie sie die FAZ jüngst zitierte, man schwanke »irgendwo zwischen tiefer Enttäuschung und gnadenlosem Zorn«. Viele Unternehmer hätten »den Eindruck, dass etwas passiert, aber in die falsche Richtung«. Desillusionierte Bevölkerung, desillusionierte Wirtschaft – klingt das nicht vielversprechend für wirkliche, radikale Umwälzungen?

Das Jahr 1968 lag nicht ganz zufällig genau in der kurzen zweijährigen Phase der vorigen Großen Koalition. »Politikverdrossenheit«, oder sagen wir besser, die Tatsache, dass die offenkundige Ähnlichkeit zwischen den Parteien nicht mehr zu verschleiern ist, führt zu einer allgemein schlechten Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den von ihr gewählten Volksvertretern. Nicht mehr nur eine der etablierten Partei befindet sich im so genannten Stimmungs­tief, sondern alle. Bei Wahlen, wie zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, verlieren quasi alle an Stimmen. Wo soll das hinführen?

In die Revolution, sagte Hans Magnus Enzens­berger 1966 voraus. Das stimmte dann zwar nicht, aber immerhin gab es mit der Apo eine quirlige Alternative zum großen Einerlei der parlamentarischen Parteien. Doch wie gesagt, es hat sich einiges verändert seitdem.

Heute gibt es die NPD. Die gab es zwar damals auch schon, und genau genommen war sie damals noch erfolgreicher als heute, immerhin saß sie in sieben Landesparlamenten. Aber diesmal sind es nicht übrig gebliebene Alt-Nazis, die ihr die Stimme geben, sondern ganz neue Wählerkreise, auch und gerade im Osten, und vor allem Jugendliche. Die notwendige Skepsis gegenüber der Parteien-­Demokratie führt, das zeigen Umfragen in Ostdeutschland, vermehrt zu einer Ablehnung des gesamten Systems. Als linksradikaler Revoluzzer könnte man frohlocken – wenn, ja wenn man etwas anzubieten hätte, eine demokratische Alternative, oder auch eine emanzipativ-revolutionäre. Doch stattdessen lauert an jeder Ecke die Regression. Staatsverdrossenheit führt in Deutschland bekanntlich schnell zum Wunsch nach dem starken Staat, so bizarr das auch klingt. Das ist einer der Gründe, weshalb auch die Wirtschaft diese Entwicklung mit Sorge sieht.

Hinzu kommt, dass der Stillstand nicht so ausgeprägt ausfällt, wie es zu wünschen wäre: Reformstau beim Kündigungsschutz, bei der Gesundheitsreform, dem absurden Nichtraucherschutzgesetz – okay. Aber nicht zuletzt die Mehrwertsteuererhöhung wird deutliche Spuren hinterlassen – auch in der Stimmung der Bevölkerung gegenüber den Regierungsparteien. Die Gewinner werden, da gilt jede Wette, nicht freundlich-friedliche Blumenkinder oder emanzipatorische, libertäre Basis­initiativen sein.