Die Revolution im Rückspiegel

Wer wissen will, welches Elend der Stalinismus wirklich bedeutete, muss Cornelius Castoriadis lesen, dessen Schriften jetzt wieder erhältlich sind. von felix klopotek

In der Januar-Ausgabe der Kunstzeitschrift Sprin­gerin konnte man ein Interview mit Dmitri Gutov, vorgestellt als »einer der wichtigsten Vertreter der russischen zeitgenössischen Kunst«, lesen. Gutov spricht von seiner Begeisterung für den Sowjetphilosophen Michail Lifschitz. Wohl jeder, der sich in den siebziger und achtziger Jahren mit marxistischer Ästhetik, also mit Brecht, Tretjakow, Benjamin und Lukács auseinandersetzte, wird Lifschitz als orthodoxen und antimodernistischen Denker kennen gelernt haben. Der 1983 verstorbene Theoretiker schrieb seine wichtigsten Texte in den dreißiger Jahren, schon das reicht vielen, ihn als Stalinisten zu brandmarken.

Gutov entdeckt in dessen Schriften aber einen antistalinistischen Kern. »Der echten marxistischen Klassik ist ein absoluter Standpunkt bei weitem nicht fremd«, zitiert er Lifschitz. »Für sie sind Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit keine Bedingtheiten der Zeit, sondern der höchste Inhalt des Klassenkampfes, und echte Werte gehören über­haupt zu den objektiven Prädikaten der Wirklichkeit selbst.« Als Quintessenz der Schriften des unter Stalin forschenden Philosophen hält Gutov fest: »Jegliche mechanische Gegenüberstellung von Revolutionärem und Konservativem ist oberflächlich und geradezu sinnlos. Es gibt Formen des Ultra­revolutionären, in dessen Herzen ein reaktionärer Konservatismus verborgen liegt.«

Der Stalinismus war kein Rollback, kein reaktionäres Regime, sondern auf der Höhe der Zeit. Für viele Intellektuelle war das ein schier unfassbarer Schock: Da wird mit rücksichtsloser Brutalität die alte bolschewistische Partei liquidiert, ohne dabei von bestimmten Prinzipien des Leninismus abzuweichen. Was der Marxist Cornelius Castoriadis über den französischen Jakobinismus aussagt, trifft auch auf den Leninismus-Stalinismus zu: »Die Schreckensherrschaft setzt in dem Augenblick ein, als das Volk von der Bühne abtritt, die Unteilbarkeit der Souveränität sich in die Absolutheit der Macht verwandelt und Repräsentanten in einem unheilvollen Zwiegespräch mit der Abstraktion zurückbleiben.«

Die Theoriearbeit vieler zeitgenössischer Marxisten und linker Revolutionäre muss man als Versuch verstehen, die Wunden zu heilen, die Stalins modernes Schreckensregime schlug. Indem man etwa, wie Lifschitz, die Kunst- und Kulturleistungen aus der totalen Funktionalisierung aller Lebens­bereiche für den Aufbau des Sozialismus herausnehmen und ihre Gültigkeit überzeitlich erklären will.

Der Schritt von Lifschitz zu Cornelius Castoriadis ist nur ein kleiner, auch wenn Castoriadis das vehement abstreiten würde. Schließlich verabschie­dete er sich in den sechziger Jahren vom Marxismus, um, wie er sagte, Revolutionär bleiben zu können. Zentral für sein Werk, wie umfangreich und verzweigt es sich darstellt, ist der antistalinistische Impuls.

Castoriadis wird 1922 in Griechenland geboren und schließt sich bereits in seiner Jugend den Kommunisten an. Nicht so sehr die Okkupation Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht scheint die tiefe Unruhe in seinem Denken auszulösen. Es ist der kommunistische Aufstand Ende 1944, der schnell zu einem Bürgerkrieg anwächst und in dessen Verlauf die Kommunisten brutal gegen vermeintliche Abweichler in ihren eigenen Reihen vorgehen. Nach dem Widerstand gegen die Deutschen erlebt Castoriadis als Trotzkist die zweite Verfolgung. Er flieht nach Frankreich und gründet mit anderen 1946 die unabhängige linksradikale Gruppe Socialisme ou Barbarie, die eine umfassende Neuformulierung der Revolutionstheorie angesichts des Stalinismus und der prosperierenden Konsumgesellschaft erarbeiten will. »Die Form der Revolution und der postrevolutionären Gesellschaft (ist) keine für alle Zeiten gegebene Institution oder Organisation, sondern vielmehr die Aktivität der Selbst-Organisation und Selbst-Institution«, äußert er in einem Interview. Mitte der sechziger Jahre zerfällt die Gruppe. Danach schickt sich Castoriadis an, die Theorie der Revolution und ihre Verwirklichung in einer Ontologie der Autonomie zu verankern.

Castoriadis, der bis zu seinem Tod 1997 ein akademischer Außenseiter geblieben ist, liegt quer zu allen dominanten Diskursen der Linken: Für Marxisten, (Post-)Strukturalisten und Diskursanalytiker hat er nur Spott übrig. Er schreibt wie ein militanter Liberaler und ist doch konsequenter Antikapitalist; er verfolgt die Totalitarismus­doktrin und bejaht die sozialistische Revolution.

Mit »Autonomie und Barbarei« erfolgt die erste größere deutschsprachige Sammlung seiner Schriften, Vorträge und Interviews (als wiederum erster Teil einer deutschen Werkausgabe) seit über 20 Jahren. Die Herausgeber und Übersetzer Harald Wolf und Michael Halfbrodt haben sich in ihrer Auswahl vor allem auf späte Einlassungen zur Philosophie der Politik konzentriert, und es ist durchaus hilfreich, sich bei der Lektüre die antistalinistische Wut seiner Theorie zu vergegenwärtigen. Ohne diesen Kontext liest sich Castoriadis’ Grundlagenforschung in Sachen Autonomie biswei­len ermüdend, auf hochtrabend Tiefschürfendes folgen unverbunden lange Schelten auf parlamentarische Demokratie und die konsumversessenen, entpolitisierten Bürger. Castoriadis redet kaum noch von Klassen, auch nicht mehr von Ausbeutung, statt­dessen, manchmal sehr vage, von dem irrational-zerstörerischen Kern der Rationalität des Kapitalismus.

Um sich dem Kern seiner Autonomie-Vorstellung zu nähern, genügt folgender Ausgangspunkt: Die Gesellschaft bringt die Individuen hervor, die Individuen bringen die Gesellschaft hervor. Casto­ria­dis erweitert diese Aussage in zwei Punkten wesentlich: Das Individuum, obwohl ganz und gar gesellschaftlich-geschichtlich geprägt, ist darauf eben nicht zu reduzieren. Und umgekehrt, die Gesellschaft, aus lauter Individuen bestehend, ist nicht auf jene Individuen zurückzuführen. Weil es diese gegenseitige Nicht-Reduzierbarkeit gibt, darf man die gesellschaftlichen Vorgänge nicht als Teil einer großen Logik verstehen, aus der sie sich restlos ableiten. Es sind vielmehr offene Prozesse der Selbstschöpfung. Es ginge auch nicht darum, so Castoriadis, »die Freiheit auf die Vernunft zu gründen, weil die Vernunft selbst die Freiheit voraussetzt – die Autonomie. Die Vernunft ist kein mechanisches Procedere oder ein System fertiger Wahrheiten, sondern die Bewegung eines Denkens, das keine andere Autorität anerkennt als seine eigene Tätigkeit. Um zur Vernunft zu gelangen, muss man zunächst frei denken wollen.«

Man findet in den politisch-philosophischen Schriften viele dieser stolzen, fast auftrumpfenden Sätze. Bisweilen regt sich allerdings der Verdacht, sie erschöpften sich im apodiktischen Gestus. Wer allerdings etwas über die Verheerungen des Stalinismus (Castoriadis würde ergänzen: die bis heute nicht ausgestanden sind) erfahren will und die damit notwendige Verknüpfung einer neuen Grundlegung der Freiheit und Revolution, kommt um ihn nicht herum. Um Lifschitz natürlich auch nicht.

Cornelius Castoriadis: Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften. Band 1, herausgegeben von Michael Halfbrodt und Harald Wolf, übersetzt von Michael Halfbrodt. Edition AV, Lich 2006. 221 S., 17 Euro