Rückkehr ohne Waffen

Viele islamistische Führungskader wollen sich mit dem algerischen Regime arrangieren. Sie bereiten die Gründung einer neuen Partei vor. von bernhard schmid, paris

Hat die Regierung ihn verschwinden lassen, oder wollte er selbst verschwinden? Am 1. Oktober begab sich Abdelqahar Belhadj gegen halb fünf Uhr zum ersten Morgengebet in eine Moschee in Algier. Seitdem ist er verschollen.

Abdelqahar ist nicht irgendein frommer Frühaufsteher, sondern der Sohn des einstmals berüchtigten Laienpredigers Ali Belhadj, der Anfang der neunziger Jahre die »Nummer zwei« in der Parteihierarchie der Islamischen Rettungsfront (Fis) war. Ali Belhadj repräsentiert den extremsten Flügel im heterogenen Spektrum des algerischen Islamismus.

Man versuche ihn unter Druck zu setzen, gab Ali Belhadj der Pariser Tageszeitung Libération in einem Telefoninterview zu Protokoll. Die Sicherheitskräfte hätten seinen Sohn entführt, damit er, Ali Belhadj, davon ablässt, dem Regime im Wege zu stehen.

Doch zwei algerische Tageszeitungen, Liberté und Eschourouk, interpretieren die Affäre völlig anders. Sie glauben, dass Belhadjs Sohn sich dem GSPC, der letzten noch nicht zerschlagenen bewaffneten Islamistenbewegung in Algerien, angeschlossen hat. Ali Belhadj nutze nun die Gelegenheit, um sich als Opfer des Systems zu präsentieren.

Wer hat nun Recht? Ali Belhadj hat seine demagogische Begabung schon häufiger un­ter Beweis gestellt, und es wäre möglich, dass sein Sohn sich zum Jihadismus berufen fühlt. Andererseits hat das algerische Regime in der Vergangenheit manche Feinde »verschwinden« lassen, und im Bürgerkrieg der neunziger Jahre gab es mehrere tausend Fälle, in denen statt der islamistischen Aktivisten, die Polizei oder Militär nicht zu fassen bekamen, deren Verwandte ermordet wurden. Dass die Regierung sich mit den »gemäßigten« Islamisten arrangieren will und Belhadj dabei im Weg steht, könnte das Motiv für eine Entführung sein.

Unter den Islamisten toben heftige Fraktionskämpfe, die »Gemäßigten« streben eine Legalisierung ihrer politischen Organisationen an und sind dafür auch zu Kompromissen bereit. Einer ihrer Sprecher ist Rabah Kébir, der 14 Jahre lang in Deutschland im Exil lebte und an der Spitze der Auslandsführung des Fis stand. Am 17. September setzte er zum ersten Mal wieder einen Fuß auf algerischen Boden, 24 Stunden später gab er auf einer Pressekonferenz bekannt, dass er und die Seinen »niemals auf unsere politischen Rechte verzichten« würden.

Kébir forderte nicht die Wiederzulassung seiner früheren Partei. »Für uns ist die Abkürzung Fis nicht der Koran, es handelt sich dabei um ein Mittel und nicht um ein Ziel.« Zum geeigneten Zeitpunkt werde man »ein neues politisches Projekt« vorstellen, das sich nicht ausschließlich an die Ehemaligen des Fis richten solle. Vielmehr wolle man vor allem mit jungen Leuten arbeiten, die noch keine Erfahrung mit politischer Tätigkeit gemacht haben.

Tatsächlich war Kébir schon in den vergangenen Jahren umstritten, denn er hatte seit 1997 die einseitige Niederlegung der Waffen durch die Islamische Rettungsarmee (AIS), den damaligen bewaffneten Arm der Partei, befürwortet. Wie viele andere Islamisten hatte er erkannt, dass der brutale Terror von autonom operierenden extremistischen Gruppen wie der GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen) gegen die Zivilbevölkerung jegliche Sympathie in der Gesellschaft für das islamistische Projekt dauerhaft zu zerstören drohte. Ali Belhadj dagegen konnte sich nicht zu einer Absage an die bewaffnete Gewalt durchringen.

Im Frühjahr 2004 erließ Kébir sogar einen Aufruf zur Wiederwahl des Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika. So viel Geschmeidigkeit gegenüber dem amtierenden Regime mochten andere Teile der Partei nicht zulassen. Ein Kongress im Jahr 2002 in Brüssel, der erste seit der Illegalisierung des Fis in Algerien, erklärte Kébir als Chef der Auslandsorganisation für abgesetzt. Er und seine Getreuen waren gar nicht erst zu dem Treffen erschienen. Seitdem sprechen sich mehrere Fraktionen gegenseitig die Legitimität ab.

Ein solcher Streit unter Islamisten ist nichts Ungewöhnliches. Ihre Bewegungen haben ein unterschiedliches Profil, von eher konservativ-institutionellen Kräften wie der türkischen Regierungspartei AKP über sozialpopulistische Bewegungen bis hin zu Gruppen wie den GIA, die eine Art faschistischen Terror praktizieren. Das islamistische Projekt ist konservativ bis reaktionär, was die Rechte der Frauen, die Vorschriften für das gesellschaftliche Zusammenleben, die Familienstrukturen und die Rechte der Einzelnen betrifft. Der Islamismus versteht sich zugleich als Bewegung gegen repressive Regierungen, eine ungerechte Weltordnung und eine Dominanz des Nordens, die allerdings nicht als wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis, sondern als kulturell-moralische Invasion gedeutet wird.

Die Strategie der Islamisten kann unterschiedlich ausfallen, von Versuchen der Überzeugung zwecks »Remoralisierung« der Gesellschaft bis zu brutaler Gewalt und Strafdrohungen. Jene Varianten des politischen Islam, die die konformistische Revolte propagieren, schaffen es oft, die sozialen Widersprüche in von Elend und Un­terentwicklung geprägten Gesellschaften aufzugreifen und zu Massenbewegungen zu werden.

Die Regierungen behelfen sich meist mit einer Ausweitung ihrer eigenen konservativen bis reaktionären Propaganda, einer Stärkung des Staatsislam und dem Versuch, kompromissbereite islamistische Fraktionen zu integrieren. Wenn diese Strategie erfolgreich ist, verschafft sie dem Regime eine neue Legitimation seiner autoritären Politik.

Eine solche Operation versucht nun wohl auch Präsident Bouteflika. Im Rahmen der von ihm propagierten Politik der »nationalen Versöhnung« wurde den verbliebenen militanten Islamisten eine Amnestie angeboten, wenn sie die Waffen niederlegen. Die Ernennung von Abdelaziz Belkhadem, der als Repräsentant eines religiösen Nationalkonservativismus galt, zum neuen Premierminister im Mai dieses Jahres war ein weiterer Schritt auf diesem Weg ( Jungle World, 27/06). Aber letztlich hat sie kaum Veränderungen bewirkt, Belkhadems Amtsführung gilt als blass und profillos.

Größere Integrationserfolge könnten ehemalige Kader des Fis erzielen. Als Rabah Kébir der Air-France-Maschine aus Frankfurt entstieg, wurden die scharfen Konflikte deutlich. Ali Belhadj wurde nicht bis zu ihm vorgelassen, während die dank des Zugriffs auf die einstige Kriegskasse inzwischen ökonomisch erfolgreichen früheren Chefs der AIS wie Madani Mezrag den Rückkehrer umringten. Kébir nutzte die Gelegenheit und rief »jene, die noch in den Bergen sind«, dazu auf, sich nun »der nationalen Gemeinschaft anzuschließen«.