Grüne Armenversteher

»Privatisieren« lautet ihr Zauberwort, nicht nur in Freiburg. Die Grünen machen Politik für die Gewinnerinnen und Gewinner der Modernisierung. von winfried rust

Am oberen Rand des Plakats steht ein großes »Nein«. Eine Jugendliche sitzt im Freien auf einer Getränkekiste und blickt frustriert ins Leere. »Ich will, dass Jugendzentren offen bleiben!« ist darunter zu lesen. Die Wahlberechtigten der Kommune stimmen am 12. November über die Frage ab: »Sind Sie dafür, dass die Stadt Freiburg Eigentümerin der Freiburger Stadtbau GmbH und der städtischen Wohnungen bleibt?« Eine Koalition aus CDU, den Grünen und den Freien Wählern ist dagegen. Sie befürwortet den Verkauf des Wohnungsbestandes, um die Stadt mit einem »Befreiungsschlag« schuldenfrei zu bekommen ( Jungle World, 22/06). Der Gemeinderat stimmte dem Vorhaben bereits zu. Doch die Verkaufsgegnerinnen und -gegner der Bürgerinitiative »Wohnen ist Menschenrecht« sammelten die erforderlichen 30 000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid.

Die zunehmende Privatisierung staatlicher Leistungen ist nichts Neues. Doch allmählich scheinen sich viele an eine Politik zu gewöhnen, die sich in Kürzungen und Besitzveräußerungen erschöpft. Die Kommunen verkaufen sämtliche Wohnungen, die noch in städtischem Besitz sind, und haben eine Schuldenlast von insgesamt 83 Milliarden Euro zu tragen. 40 Prozent der Kommunen haben bereits beschlossen, ihren Wohnungsbestand zu reduzieren.

Mit dem Plan, sogar den gesamten Bestand an städtischen Wohnungen zu verkaufen, stießen die Freiburger Kommunalpolitikerinnen und -politiker jedoch auf Ablehnung. Inzwischen ist zumindest der politisch interessierte Teil der Bevölkerung gespalten – jene, die »Ja« sagen, und jene, die »Nein« sagen. Das Thema Wohnen hat sich als besonders brisant erwiesen. Den einen geht es darum, die Stadtentwicklung nicht vollständig dem freien Markt zu überlassen. Die anderen befürchten schlicht unbezahlbare Mieten. Bei ihnen stößt der geplante Verkauf auf die größte Abwehr.

Besonders befremdlich erscheint manchen, dass ein grüner Oberbürgermeister, Dieter Salomon, den Tabubruch initiierte und die grüne Partei sich als die offensivste Vertreterin der Maßnahme erwiesen hat. Zudem entstand aus dem Umfeld der Alternativen die Bürgerinitiative »Zukunft für Freiburg«, die auch für den Verkauf eintritt. Unter anderem linksliberale Akademiker sind der Meinung, dass sich soziale und kulturelle Initiativen nur mithilfe des Verkaufserlöses aufrechterhalten lassen.

In den gegenwärtigen Verteilungskämpfen, für die Freiburg und sein Wohnungsbestand nur ein Beispiel sind, kann man eine Neuformierung der Akteure, Interessen und Strategien beobachten. Das grüne Milieu bewegt sich darin am meisten. Es handelt sich bei dessen Angehörigen um potenzielle und tatsächliche Gewinnerinnen und Gewinner der Modernisierung. Die eigenen Interessen rücken in den Vordergrund, schließlich ist beispielsweise das Leben als freier Architekt auch nicht immer einfach. Der Liberalismus der Grünen tritt klar zutage, wenn sie an der Macht sind. In der Bundesregierung rückten sie mit Hartz IV von den Armen ab, in der Kommune passiert Vergleichbares mit dem Verzicht auf einen städtischen Wohnungsbestand.

Außerdem waren die Grünen schon immer Streber. Die der ersten Generation saßen häufig in voller Fraktionszahl in ansonsten spärlich gefüllten Parlamenten. Tugend, Korrektheit und Moral waren ihre Botschaften. Inzwischen zeigen sie am plausibelsten, wie das Bürgertum, gerade in den unterfinanzierten Kommunen, weiterwursteln kann. Auf jede Frage finden sie eine adäquate Antwort, die etwa lautet: »Jetzt hat das Regierungspräsidium zu Recht die Reißleine gezogen.« Oder: »Finanztricks hat das Regierungspräsidium untersagt.«

Die Grünen wollen mit sich und der Welt im Reinen sein und keine Schulden. Sie sind die zeitgemäße Version der Mittelschicht: Armenversteher, die Bildung verschreiben und Zuwendungen streichen. Ob es um den sozialen Wohnungsbau oder um die Sozialarbeit geht, die Grünen eignen sich bestens für Tabubrüche.

»Wir haben uns mit dem Verkauf schwer getan und viele Gespräche geführt«, beteuert die Freiburger Stadträtin Lioba Grammelspacher. Aber die Mieten der Stadtbau GmbH lägen nur knapp unter dem Durchschnitt vergleichbarer Wohnungen, und lediglich knapp 20 Prozent aller Mieterinnen und Mieter der Stadt bezögen Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe. Außerdem sei keine Alternative zu einer »nachhaltigen« Haushaltskonsolidierung.

Tatsächlich gelten in der Stadtplanung 20 Prozent Empfängerinnen und Empfänger staatlicher Sozialleistungen als Höchstmaß dessen, was man für »sozial verträglich« oder kontrollierbar hält. Außerdem ist eine große Anzahl der Erwerbstätigen wegen geringer Löhne ebenfalls auf dauerhaft bezahlbare Mieten angewiesen. Schließlich ignorieren die Grünen, dass Wohnungsbestände ausschließlich mit dem Ziel gekauft werden, sie rentabel zu bewirtschaften. Ohne Mieterhöhungen kann das nicht gehen, wenn zu den üblichen Hypotheken ein Kaufpreis von mehr als 500 Millionen Euro kommt. Perspektivisch wird also das öffentliche Defizit, das die Kommune mit dem Verkauf des Wohnungsbestandes loswerden will, den Ärmeren durch Mieterhöhungen aufgebürdet.

Das vorherrschende Handlungsmotiv in der grün regierten Stadt ist die »nachhaltige Haushaltsführung«. In Zeiten leerer Kassen dominiert die Sorge um den kommunalen Haushalt. Warum eigentlich so wenig Geld in der Kasse ist, will niemand wissen. Der Wille, tugendhaft zu handeln, führt dazu, dass die Grünen mustergültig den »Sachzwängen« gehorchen. Wenn das Geld knapp wird, stellen sie in der Bürgerversammlung die Frage neu: »Was ist eigentlich soziale Gerechtigkeit heute?« Die Antwort lautet: »gezielte« Förderung, also weniger Förderung. »Nachhaltige Politik« bedeute »erstens Entschuldung und zweitens Einsparungen«. Grüne Politikerinnen und Politiker beteuern, dass sie auch nach einer Entschuldung eine restriktive Haushaltspolitik weiterführen wollen.

Eine Diskursabweichung nach links ist in Freiburg die Intervention des Mietshäuser-Syndikats, das sein eigenes Modell auf die Stadtbau übertrug. Danach würde eine neue GmbH »in Bürgerhand« mittelfristig Anteile an der Wohnungsbaugesellschaft erwerben. Preiswerte Mietwohnungen blieben erhalten, aber die Stadt bekäme deutlich weniger Geld als beim Verkauf an einen Finanzinvestor.

Die Abweichung nach rechts stellt das links gemeinte Symbol der durchgestrichenen Heuschrecke dar, mit dem viele Gegnerinnen und Gegner des Verkaufs ihre Häuser schmücken. Die Vorstellung, dass »Kahlfressen und Weiterziehen« eine Charakterisierung des Wirtschaftens sei, ist bestenfalls einfältig. Die Unterscheidung der Ökonomie in eine »gute« produzierende und eine »böse« raffende Tätigkeit lenkt unverstandenes Ressentiment nach außen, gegen das Abstrakte oder vermeintlich »Volksfremde«.

Doch das Unbehagen über den geplanten Verkauf des städtischen Wohnungsbestands artikuliert sich in der Mehrheit nicht in diesen Abweichungen. Viele Freiburgerinnen und Freiburger wollen schlicht bezahlbare Wohnungen und nicht ständig von Armut und Ausschluss bedroht sein. Der grüne Sanierungsdiskurs stellt eine neue Variante dar, wie die Kritik an der Politik und den gesellschaftlichen Verhältnissen wirkungsvoll überlagert werden kann.