Notwendige Reparaturen

Bewirken die staatlichen Programme gegen Rechts wirklich so wenig? Und was sind die Alternativen? Untätigkeit jedenfalls führt in die Barbarei. von eberhard seidel

Was war das für eine Aufregung, damals, im Sommer 2000! Die Nation entdeckte den Rechtsextremismus. Hunderttausende schlossen sich dem »Aufstand der Anständigen« an. Alle waren sich darüber einig, dass es Fünf vor Zwölf sei und dringend etwas getan werden müsse. Christian Pfeiffer, der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover, meinte: »Zivilcourage lässt sich nicht herbeireden und herbeischreiben. Sie braucht Rahmenbedingungen.« Mit jährlich rund 100 Millionen Euro, glaubte Pfeiffer, ließe sich einiges bewegen.

Die rotgrüne Bundesregierung befolgte den professoralen Rat. Im Jahr darauf wurde das Aktionsprogramm »Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Frem­denfeindlichkeit und Antisemitismus« beschlos­sen. Es war der Beginn eines gesellschaftlichen Großprojektes, wie es die Republik noch nicht gesehen hatte.

Vom Herbst 2001 bis zum Dezember 2006, dem offiziellen Ende des Programms, werden nicht weniger als 267 Millionen Euro in Tausende von Projekten geflossen sein. 267 Millio­nen! Davon gingen 65 Millionen in das Programm »Entimon – Gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus«, weitere 52 Millionen in »Civitas – Gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern« und rund 150 Millionen, die aus dem europäischen Strukturfonds und der nationalen Kofinanzierung stammten, in das Programm »Xenos – Leben und Arbeiten in Vielfalt«.

Angesichts dieser Summen sollte man schon mal fragen: Und? Was hat das Ganze gebracht? Und siehe da: Trotz dieser Investitionen gibt es sie noch – den Rechtsextremismus, den Islamismus und andere demokratiegefährdende Ideologien. Für Burkhard Schröder ( Jungle World 39/06) steht deshalb fest, dass die staatlichen Programme gegen Rechts wenig bis nichts bewirkt haben, was auch das Wahlergebnis der NPD in Mecklenburg-Vorpommern gezeigt habe.

Was aber kann man für 276 Millionen Euro in fünf Jahren erwarten? Eine rassismusfreie Gesellschaft? Blühende Landschaften zwischen Rostock-Lichtenhagen und Zittau? Bevölkert von zukunftsgläubigen, demokratischen und am Gemeinwohl interessierten jungen Menschen? Folgt man Schröder, wäre dies das Min­deste, was wir von so viel Geld erwarten dürfen. So denkt, wer keinen Begriff davon hat, was es an Ressourcen braucht, um gesellschaftliche Großprojekte zu verwirklichen.

In Sachsen zum Beispiel kosten knapp 45 Kilometer Bundesautobahn zwischen Dresden und der tschechischen Grenze, die bis Ende des Jahres fertiggestellt sein sollen, rund 646 Millionen Euro. In Berlin haben die Sanierungs- und Umbaukosten des wieder eröffneten Bode-Museums 167 Millionen Mark verschlungen. Und allein die Personalkosten der rund 750 000 Lehrer in Deutschland schlagen jährlich mit rund vier Milliarden Euro zu Buche, die Personalkosten der 270 000 Polizisten mit weit über einer Milliarde. Ja, Mobilität, Kultur, Bildung und Sicherheit kosten Geld.

Angesichts dieser Dimensionen nehmen sich die jährlich 50 Millionen Euro und die wenigen hundert Menschen, die fünf Jahre lang bundesweit Maßnahmen »für Toleranz und Demokratie« und gegen »Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus« zu entwickeln versucht haben, recht bescheiden aus. Unseriös ist, wer erwartet oder gar nahe legt, dass man das Problem des Rechtsextremismus über kurz oder lang aus der Welt schaffen könne, wenn man Opferberatungsstellen, mobile Beratungsteams oder andere zivilgesellschaftliche Einrichtungen nur ausreichend finanziert.

Mit 50 Millionen Euro im Jahr lässt sich eine Gesellschaft, die aufgrund globaler sozioökonomischer Entwicklungen auseinanderzubrechen droht, nicht reparieren. Dafür reicht im Übrigen selbst das Dreihundertfache nicht, wie die jährlichen 15 Milliarden Euro Hilfen für Ostdeutschland (»Solidarpakt« und Wirtschaftsfördergelder) beweisen.

Seit über 20 Jahren, spätestens seit der Wende 1989, sind in Deutschland ganze Stadtviertel und Regionen von der Reichtumsproduktion und damit von den Freuden des Konsums ausgeschlossen. Soziale Milieus sind entstanden, die nur noch wenig mit den materiellen Standards und kulturellen Codes der tonangebenden Mittelschich­ten verbindet. Die Menschen in den abgehängten Regionen wissen längst, was kein Politiker öffentlich zugeben mag: Die Gesellschaft braucht einen Großteil der Bevölkerung Berlin-Neu­köllns und Mecklenburg-Vorpommerns nicht mehr. In der Ökonomie gibt es keinen Platz für sie. Heu­te nicht und auch morgen nicht – nicht einmal in der Armee. Die Ära der Bauhelfer, Bandarbeiter, Gabelstaplerfahrer, Stahlkocher, Bergleute und Infanteristen ist Geschichte.

Natürlich ist all dies kein Freibrief für Rechtsradikalismus, für Antisemitismus, Schwulenhass, Deutschenfeindlichkeit unter Migrantenjugendlichen, Rassismus und Islamismus. Auch gibt es keinen Automatismus nach dem Motto: So was kommt von so was.

Und tatsächlich nehmen die meisten, vor allem Frauen und Ältere, ihr Elend einfach hin. Auf der anderen Seite muss man zur Kenntnis nehmen, dass es vor allem die jungen Männer sind, die ver­suchen, Herr der eigenen Geschichte zu bleiben – allzu häufig mit untaug­lichen Mitteln. Und eine Regel in bildungsfernen, organisations­schwachen, ressourcenarmen Milieus, die weder von den Gewerkschaf­ten noch von einer demokratischen Linken mit ihrem Egalitätsversprechen erreicht werden, lautet: Wer sonst nichts hat, greift schnell mal auf das zurück, was ihm von Geburt an zuzukommen scheint – also Religion, ethnische Zugehörigkeit, das Blut, die Heterosexualität.

Junge Männer erreichen mit normüberschreitendem, häufig gewaltsamem Handeln das höchste Maß an Aufmerksamkeit. In ge­wisser Hinsicht ist ihr Handeln rational. Sie haben gelernt, dass Mittel für Jugendeinrich­tungen, für die Ausstattung einer Schule, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dann am üppigsten fließen, wenn die Zahl rassistischer Übergriffe, der Gewalttaten oder der Wählerstimmen für rechtsradikale Parteien eine kritische Marge überschreitet.

Initiativen und Projekte gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Islamismus und Gewalt alleine werden den Erosionsprozess der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufhalten. Sie können in bester kommunitaristischer Tradition allenfalls zur Zivilisierung einer Kommune oder einer Schule beitragen, temporäre Tabus errichten und Hemmschwel­len für normabweichendes Handeln erhöhen. Das ist nicht alles, aber es ist eine ganze Men­ge. Die Alternative – nämlich Nichts­tun oder Stillhalten – führt zwangsläufig in die Barbarei. Glücklicherweise sehen das viele Jugendliche und Bürger in den betroffenen Regionen ähnlich.

Wer nicht nur am Schreibtisch sitzt und Vorurteile pflegt, sondern sich auch einmal vor Ort begibt, der sieht, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert hat – auch dank der Programme gegen Rechtsextremismus. Anders als in den neunziger Jahren bleiben Opfer rechter Gewalt nicht mehr sich selbst überlassen. Demokratisch gesinnte Schüler schlie­ßen sich in Netzwerken zusammen, um in ihrer Schule oder im Umfeld die Deu­tungs­hoheit rechter Gruppen zu brechen. In vielen Städten stellen sich nicht mehr nur Antifa-Aktivisten Neonaziaufmärschen in den Weg, sondern Bündnisse von Bürgern – in Wunsiedel, Ver­den, Berlin und andernorts. Solche Bündnis­se zu schlie­ßen, ist müh­sam und erfordert intensive Netzwerkarbeit. Häufig wird sie von Projekten organisiert, die ihre dafür notwendigen Ressour­cen aus dem Aktionsprogramm erhalten.

Das alles kann man als Reparaturarbeit am Kapitalismus denunzieren, die lediglich dazu beiträgt, die wahren Verhältnisse zu verschleiern. Möglicherweise tun die Projekte das auch. Wenn sie aber gleichzeitig helfen, Schule um Schu­le, Straße um Straße, Region um Region gegen das Hegemoniestreben rechtsextremer oder auch islamistischer Gruppen zu verteidigen, ist damit viel Gutes im möglicherweise falschen Leben erreicht.

Und wenn es trotz Fördergeldern im­mense Probleme mit einer rechtsextremen Szene wie in der Sächsischen Schweiz, in Niedersachsen oder in der Region Anklam gibt, oder mit islamistischen Szenen in den Einwanderervier­teln, liegt dies weniger an der mangeln­den Professionalität der Interventionen, sondern schlicht an der Wucht der sozia­len Erosion. Das bedeutet im Umkehr­schluss natürlich nicht, dass alles, was im Namen der Toleranz angeboten, pro­duziert und getan wird, auch sinnvoll ist. Aber eine Debatte über die Qualität einzelner Maßnahmen müsste schon am konkreten Beispiel geführt werden und nicht in wolkiger Allgemeinheit.

Die Frage, wie viel Geld die Gesellschaft in Programme zur Verteidigung der Zivilgesellschaft steckt, ist wichtig. Aber sie ist selbstredend nicht die Schick­salsfrage. Die lautet: Wie reagiert die Gesellschaft auf den Zerfallsprozess der Gesellschaft, wie wir sie kennen? Und was tritt an Stelle der altbewährten Stra­tegien der Integration durch Arbeit und Konsum?

In den USA hat sich die Gesellschaft seit den achtziger Jahren auf ein hartes Durchgreifen geeinigt. Konsequent wer­den delinquente Jungmänner weggesperrt. Wenn es sein muss, für immer. Die Gefangenenquote ist zehn Mal höher als in Deutschland. Will man in so einer Gesellschaft leben?

Eberhard Seidel ist Journalist und Geschäftsführer der Bundeskoordination »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage«.