Täglich grüßt das Murmeltier

Harte Einsätze der Bundespolizei konnten die sozialen Kämpfe im südmexikanischen Oaxaca nicht beenden. Doch auch der Gouverneur Ulises Ruíz gibt nicht nach. von marco pulquo, mexiko-stadt

In diesem Moment fahren Panzerwagen vor dem Rektorat vor. Compañeros, lasst uns einen kühlen Kopf bewahren, aber, Compañeros, tun wir, was zu tun ist. Lasst uns Widerstand leisten. Compañeros, kommt, um uns zu unterstützen. Das Schicksal der Universität liegt in unseren Händen. Wir ergeben uns nicht.«

Die Berichterstattung des besetzten Radio Universidad in Oaxaca-Stadt konzentriert sich am Morgen des 2. November auf das Geschehen vor dem Fenster. Über 3 000 Bundespolizisten sind in Bewegung und greifen die Barrikaden vor dem Haupteingang der autonomen Universität Benito Juarez an. Nur wenige Meter trennen die Moderatoren von denen, die sich mit den vor allem aus Militärs rekrutierten Polizeieinheiten erbitterte Schlachten liefern. Steinschleudern, Katapulte, Bazookas aus PVC-Röhren und Molotowcocktails gegen Räumpanzer, Hubschrauber und Wasserwerfer. Unentwegt hageln Tränengasgranaten auf den verbarrikadierten Campus. Die Staatsgewalt scheint angerückt zu sein, um endgültig die letzte große Bastion des sozialen Bündnisses im südmexikanischen Oaxaca auszuräuchern.

Der mexikanische Bundesstaat Oaxaca und die gleichnamige Hauptstadt sind seit über fünf Monaten Schauplatz sozialer Kämpfe. Seit die Sektion 22 der Lehrergewerkschaft Mitte Mai zum Streik aufgerufen hat, versucht die Regierung von Gouverneur Ulises Ruíz dem zivilen Aufbegehren gewaltsam ein Ende zu machen. Die Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Lehrbedingungen beantwortete Ruíz, der der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) angehört, bereits im Juni mit einem ersten massiven Polizeieinsatz.

Doch die von der PRI jahrzehntelang erprobte Mischung aus erkaufter Loyalität von Gewerkschaften und lokalen Caziquen, gepaart mit einer repressiven Prise Paternalismus, scheint im Moment nicht mehr zu wirken. Studenten, Hausfrauen, Indígenas und linke Basisgruppen besetzen öffentliche Plätze und Regierungsgebäude. Gemeinsam mit tausenden Lehrern gründeten sie die »Versammlung der Bevölkerung von Oaxaca« (APPO) und radikalisierten die anfänglichen Forderungen. Neben umfassenden sozia­len und politischen Reformen ist der Rücktritt von Gouverneur Ruíz eine nicht verhandelbare Forderung der Bewegung.

Doch der von der APPO zum »politischen Kadaver« deklarierte Ruíz erfreut sich nach wie vor der Unterstützung aus den eigenen Reihen und durch die Bundesregierung. Dabei hatte der amtierende Präsident Vicente Fox von der Partei Nationale Aktion (PAN) anfangs wenig Interesse daran, sich in eine »lokale Krise« einzumischen. Doch da sein Parteikollege Felipe Calderón die Präsidentschaftswahlen im Juli nur mit Mühe und mit Betrugsvorwürfen gegen seinen gemäßigten linken Gegner Andres Manuel López Obrador gewinnen konnte, ist die PAN inzwischen auf neue Verbündete angewiesen.

»Die mexikanische Regierung und die Regierung von Oaxaca haben eine Allianz gebildet, auch wenn beide von unterschiedlichen Parteien gestellt werden«, meint auch die Lehrerin Denia Cortez aus Oaxaca. »Das Bündnis besteht, weil die Bundesregierung den Gouverneur von Oaxaca nicht absetzen kann, ohne damit den frisch gewählten Präsidenten Calderón zu schwächen. Der würde sich ohne die Unterstützung der PRI nicht halten können. Und damit droht man Calderón natürlich.«

Und zwar mit Erfolg. Der mexikanische Senat entschied vor zwei Wochen, dass die Regierbarkeit von Oaxaca noch immer gewährleistet sei – trotz der dort geschlossenen Regierungsgebäude, verbarrikadierten Straßenzüge und Tausender geschlossener Schulen. Gleichzeitig nahm Innenminister Carlos Abascal Gespräche mit der Sektion 22 der Lehrergewerkschaft auf und handelte Lohnerhöhungen und eine baldige Rückkehr in die Schulen aus. Gouverneur Ruíz solle jedoch im Amt bleiben. Das ist der Grund, warum die APPO den Kompromiss rigoros ablehnte und den Gewerkschaftern vorwarf, sich verkauft zu haben. Der Plan, das bis dahin vereinte soziale Bündnis zu spalten, schien zu funktionieren.

Während in der mexikanischen Hauptstadt verhandelt wurde, gingen die Angriffe auf die soziale Bewegung in Oaxaca unvermittelt weiter. Die Ruíz zugeordneten Schlägertrupps und Paramilitärs griffen immer wieder Barrikaden an, entführten Mitglieder der APPO oder schossen auf sie. In seiner knapp zwei­jährigen Amtszeit rechnen Men­schen­rechts­organisationen seiner Regierung bereits über 40 politische Morde zu. Aber neben einer Schwächung des sozialen Aufbegehrens sollte mit den neuerlichen Übergriffen auch der Einsatz der Bundestruppen und des Militärs provoziert werden.

Bis Ende Oktober töteten lokale Polizeieinheiten und der PRI nahe stehende bewaffnete Gruppen mindestens 13 Unterstützer der APPO: Diese wurden erschossen auf dem Nachhauseweg von einer Versammlung, bei einem drive by an einer Barrikade oder tödlich getroffen von einer Tränengasgranate. Auch die Listen Verhafteter und Verschwundener wurden jeden Tag länger, aber noch immer versagte Präsident Fox föderale Hilfe. Gouverneur Ruíz musste fürchten, dass sich die APPO und die mexikanische Regierung doch noch einigen würden. Auch die eigene Partei könnte Ruíz nach dem 1. Dezember fallen lassen. Denn dann, wenn der Gouverneur das erste Drittel seiner Amtszeit vollendet hat, würde die PRI bei einem Rücktritt automatisch den nächsten Regenten stellen. Neuwahlen könnten verhindert werden.

Einer der brutalsten Angriffe auf die Barrikaden in Oaxaca besiegelte schließlich den Einsatz der Bundestruppen. Als am 27. Oktober bewaffnete Gruppen an verschiedenen Orten auf Aktivisten der APPO schossen, starben drei Menschen, unter ihnen auch der US-Journalist Brad Will. Nun musste Präsident Fox handeln. Die Räumung der besetzen Straßenzüge durch föderale Polizeieinheiten wurde beschlossen, damit diese »als neutrale Ordnungsmacht den sozialen Frieden wiederherstellen«.

Noch bevor die Verbände der Bundespolizei Oaxaca-Stadt erreichten, wurden ein Polizist und ein Mitarbeiter der PRI-Administration als wahrscheinliche Mörder von Brad Will festgenommen. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass der Kameramann von Indymedia New York gezielt erschossen wurde. Das meint auch die Lehrerin Denia Cortez: »Brad filmte gerade an einer Barrikade, einer dieser Straßensperren, die verhindern sollen, dass sich die Paramilitärs in der Stadt frei bewegen können und auf uns schießen. Er wurde nicht zufällig von einer Kugel getroffen. Die Schusswunde sieht nicht nach einem Querschläger aus. Die Kugel ging genau in die Brust. Sie durchbohrte ihn.«

Zwei Tage nach Wills Tod durchbrachen Räumpanzer die Barrikaden zum Zócalo, dem zentralen Platz von Oaxaca-Stadt. Statt den Unterstützern der APPO haben inzwischen Bundespolizisten ihr Lager dort aufgeschlagen. Doch beenden konnten sie die sozialen Kämpfe auch mit ihrem Sleep-in bisher nicht. In anderen Teilen der Stadt werden neue Barrikaden gebaut – trotz der Hausdurch­suchungen, willkürlicher Verhaftungen und des paramilitärischen Terrors. Mehr noch: Der neuer­liche Angriff auf die Barrikaden vor der Universität hat auch die Lehrergewerkschaft und die APPO wieder zusammenrücken lassen. »Wir kritisieren, wie versucht wird, unsere Bewegung mit allerlei Tricks aus dem Gleichgewicht zu bringen«, sagt Alfredo Chiú Velasquéz, Sprecher der Lehrergewerkschaft. »Über die Rückkehr in die Schulen entscheiden die Lehrer, wenn sie es für richtig befinden.«

Auch bisher eher passive Einwohner und angereiste Unterstützer aus Mexiko-Stadt verteidigten Anfang November die Autonomie des Campus, das besetzte Radio und die dorthin geflüchteten Aktivisten der APPO. Und auch wenn die Regierung am Ende von einem »taktischen Rückzug« sprach und ihre »Ordnungsmission« fortsetzen will, glaubt selbst Innenminister Carlos Abascal nicht mehr an eine schnelle Lösung. Immer mehr Menschen und linke Organisationen solidarisieren sich mit dem sozialen Bündnis in Oaxaca. Tausende Zapatisten blockieren in diesen Tagen ganze Regionen im Bundesstaat Chiapas. Gleich mehrere Karawanen machen sich nach Oaxaca auf den Weg, und vor zahlreichen mexikanischen Botschaften finden Demonstrationen statt.

Das repressive »Peacekeeping« in Oaxaca hat versagt. Die sozialen und ökonomischen Probleme in einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos werden sich weiterhin nicht einfach wegknüppeln lassen. Auch wenn die Bundespolizei in den vergangenen Tagen vorsorglich alle Glasmurmeln in Oaxaca aufgekauft hat, werden die Katapulte gegen die Polizei weiter gefüllt werden. »Die Probleme in Oaxaca haben tiefe ökonomische, politische und soziale Wurzeln«, meint Zelen Bravo, ein Sprecher der APPO. »Deswegen gehen die Menschen auf die Straße und fordern Investitionen in die Infrastruktur, in Straßen, in die Stromversorgung, in das Trinkwassernetz, in Krankenhäuser und Schulen. Das ist der Hintergrund dessen, was gerade in Oaxaca passiert.«

Chiú Velasquéz von der Lehrergewerkschaft glaubt wie viele nicht mehr an eine institutionelle Lösung. »Unabhängig von einer möglichen Rückkehr in drei Schulen geht unser Kampf weiter. Wenn der Senat sich weigert, die Nichtregierbarkeit in Oaxaca festzustellen, dann muss das eben die Bevölkerung übernehmen, indem sie Tatsachen schafft, auf praktische Weise.«