An den Wurzeln wursteln

Ahnenforschung heißt das Hobby so mancher Deutscher. In Berlin ist das Gemeindezentrum der Mormonen die erste Adresse für Genealogen. von sebastian krüger

Dicker Herbstnebel wabert aus dem Tiergarten, Berlins großem Innenstadtpark, und hüllt die Nordischen Botschaften ein. Auch das Gebäude gegenüber ist nur schemenhaft zu erkennen. Es ist ein Gemeindezentrum der Mormonen mit einer angeschlossenen Genealogischen Forschungsstation. Hier geben sich viele Berliner Ahnenforscher ein Stelldichein, denn dank der Akribie, mit der die Mormonen in aller Welt die Daten von Verstorbenen sammeln, finden sie hier den idealen Einstieg in die eigene familiäre Vergangenheit.

Der dunkel getäfelte Raum mit den Lesegeräten für Mikrofilme ist besetzt bis auf den letzten Platz, es herrscht Schweigen. Nicht nur Senioren mit viel Zeit, auch junge Menschen sind vom Ahnenforschungsfieber erfasst. Matthias Klapper, ein 36jähriger Statistiker, kommt mehrmals im Monat hierher, um ganze Abende lang Mikrofilme auszuwerten. Mit den Mormonen hat er weiter nichts zu tun. Er hat seinen Stammbaum schon bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgt. Jetzt arbeitet er sich in die Breite, erforscht die Nebenlinien, spürt die Geschwister seiner Stammväter auf und deren Kinder und Kindeskinder. Sein Ziel ist es, mit allen noch lebenden Angehörigen seiner weit verzweigten Sippe Kontakt aufzunehmen.

Die Mormonen haben in ihrer Zentrale in Salt Lake City im US-Bundesstaat Utah ein gigantisches Archiv eingerichtet. Es enthält die Lebensdaten von Millionen Menschen, zum Beispiel in Form abfotografierter deutscher Kirchenbücher aus den vergangenen Jahrhunderten. Hintergrund ihrer Sammelwut ist die »Totentaufe«. Stößt ein Mormone beim Aktenstudium auf einen nicht-mormonischen Ahnen, so findet dieser nachträglich Eingang in den Mormonenhimmel, wenn sich der Finder an seiner Stelle taufen lässt. Von dieser Gepflogenheit, der katholische und evangelische Theologen höchst skeptisch gegenüberstehen, kann indes jedermann profitieren, denn die Mormonen stellen die exhumierten Daten frei zur Verfügung. Jeder kann sie bestellen und einsehen – zum Beispiel in der vom Nebel eingehüllten Mormonenkirche am Tiergarten.

Tausende Deutsche suchen in Standesämtern, Pfarrbüros und Archiven nach ihren Vorfahren. Zu einem wahren Massenhobby entwickelte sich die Ahnenforschung in den vergangenen Jahren. Die deutschen Genealogievereine zählen rund 30 000 Mitglieder, auf sehr viel mehr Interessierte deutet die Vielzahl der Internetportale, auf denen sich Gleichgesinnte austauschen oder in digital aufbereiteten Daten stöbern können. Die Website der Deutschen Arbeitsgemeinschaft genealogischer Verbände etwa listet mittlerweile zehn Millionen historische Personen auf – ihre Daten wurden von vielen privaten Genealogie-Enthusiasten zusammengetragen.

Für Ahnenforscher ist das Jahr 1874 von großer Bedeutung. Seitdem gibt es in Deutschland Standesämter, die das Personenstandswesen lückenlos und amtlich dokumentieren. Das eigentliche Interesse der Genealogen gilt der Zeit davor, denn verlässliche Auskünfte sind nur in Gerichtsakten, Verkaufsurkunden und anderen Dokumenten zu finden. Die wichtigste Quelle für Ahnenforscher sind Kirchenbücher, denn in ihnen sind alle Daten zu finden. Ihr jeweiliger Zustand ist indes sehr unterschiedlich, denn wie die alten Bücher aufbewahrt werden, obliegt der jeweiligen Gemeinde.

Wer nach Ahnen forschen möchte, die in den ehemals deutschen »Ostgebieten« lebten, für den ist das Evangelische Zentralarchiv (EZA) am Berliner Bethaniendamm die beste Adresse. Wer dort nicht fündig wird, muss sein Hobby unter Umständen ganz und gar aufgeben. Kirchenbücher aus den Orten, die heute in Polen, Litauen und Russland liegen, werden gesammelt, darunter allein 7 300 Stück, die noch während des Zweiten Weltkrieges ausgelagert wurden. Noch immer wächst das Archiv jedes Jahr um eine Hand voll Bücher, die in Nachlässen von Flüchtlingen oder auf Flohmärkten auftauchen.

Die Begegnung mit einem Folianten etwa aus dem 18. Jahrhundert ist ein sinnliches Erlebnis erster Güte. Das Format ist ungewohnt groß, ebenso das Gewicht, am besten ist, man fasst mit beiden Händen zu. Das Papier riecht nach vergangenen Zeiten, es hat eine feine Textur und fühlt sich unerwartet steif an. Ebenmäßig und dunkelblau fließen die Schriftzüge der Pastoren über das Blatt. Private Ahnenforscher bekommen die Originale aber in der Regel weder zu Gesicht noch in die Hände. Um die Bücher vor Abnutzung zu schützen, wurde der komplette Bestand auf Mikrofiche kopiert. Im Lesesaal, wo Sprechverbot herrscht, sind alle 14 Leseplätze auf Monate hinaus ausgebucht.

Tobias Müller hat Glück gehabt, er hat im EZA die Spur seiner schlesischen Vorfahren entdeckt. Der 28jährige Doktorand der Kartografie arbeitet seit fünf Jahren an seiner Ahnentafel, die bereits 653 Personen umfasst. Die älteste von ihm aufgespürte Vorfahrin lebte von 1678 bis 1749, neun Generationen vor ihm. Inzwischen kennt er sich bestens aus mit Kirchenbüchern, die altdeutsche Schreibschrift kann er problemlos lesen. »Kirchenbücher bestehen aus drei Teilen«, erklärt er. »Vorne ›die Geborenen und Getauften‹, in der Mitte ›die Aufgebotenen und Getrauten‹, und hinten ›die Gestorbenen‹.« Findet Müller neue Daten, hackt er sie sofort in sein Laptop. Dank »Brother’s Keeper«, einem handelsüblichen Computerprogramm zur Ahnenverwaltung, hat er seinen Stammbaum auf seiner Festplatte gespeichert.

Ausgangspunkt für Klappers und Müllers detektivisches Hobby waren die Ahnenpässe ihrer Urgroßeltern aus den vierziger Jahren, kleine braune Heftchen mit einem dicken Hakenkreuz drauf. Weil die Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn von den »Volksgenossen« den Nachweis ihrer »arischen« Abstammung verlangten, galt Ahnenforschung noch viele Jahre nach dem Krieg als »nationale Tümelei«. Doch heute, mehr als 60 Jahre nach Kriegsende, will man mit dem Thema ungezwungen umgehen. »Ich beschäftige mich mit meinen Vorfahren, weil ich mir meiner eigenen Geschichte bewusst werden will«, sagt der Hobby-Genealoge Tobias Müller. »Aufgewachsen bin ich in Sachsen, jetzt lebe ich in Berlin. Für mich wird der Begriff ›Heimat‹ immer relativer, denn Wurzeln habe ich an vielen Orten.« Demnächst zieht er nach Bonn, um dort zu promovieren. Vielleicht spinnt er einen neuen Faden im weit verzweigten Netz verwandtschaftlicher Beziehungen?

Matthias Klapper, der nach Feierabend in der Genealogischen Forschungsstelle der Mormonen eine Filmrolle nach der anderen durchsieht, sagt: »Je länger ich mich mit meinen Vorfahren beschäftige, desto mehr Zusammenhänge erkenne ich. Menschen, Geschichte und Landstriche – alles hängt mit allem zusammen.« Familiengeschichte als Heimatkunde. Dass er die Puzzleteile für dieses Panorama einer Datenbank entnimmt, die von den Mormonen zusammengetragen wurde, findet er unproblematisch. In den Räumen der Forschungsstelle herrscht der nüchterne Geist einer Fachbibliothek, unfreiwillig wird hier niemand missioniert. Noch immer wabert der Nebel aus dem Tiergarten herüber und hüllt das Mormonenzentrum ein.