Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft

Wo Individualdarwinistenkosmopoliten auf Sonderangebotsfetischisten treffen und ein Mordsgegrummel veranstalten. von andreas fanizadeh

Berlin ist eine spezielle Stadt. Zwischen 1945 und 1989 war sie die unangefochtene Hauptstadt des Kalten Kriegs, was erhebliche politische und ökonomische Besonderheiten mit sich brachte, die bis in die Gegenwart fortwirken, aber in der öffentlichen Wahr­nehmung oft vergessen werden. So lebte die Westberliner Gesellschaft jahrzehntelang in dem Glauben, der Kapitalismus sei ein mild­tätiges Großmütterchen. Die ideologisch motivierten Kapitaltransfers aus der Bundesrepublik ließen das ganze Jahr zu Weihnachten werden, und die Präsente hielten die Haushalte der Stadt und allerhand Schein­firmen am Leben. Dieses Berlin war auch ein ideales Refugium für die lebensweltlich orientierte West­linke, die sich in den Trümmern der Nach­kriegs­ge­sellschaft einnisten konnte wie sonst nirgends in den kapitalistischen Demokratien.

Dann kam der Mauerfall, und mit ihm kam zusammen, was eben zusammenkam, nicht zuletzt der Westteil mit der bisherigen Hauptstadt der DDR. Mit der Implosion des DDR-Systems verschwanden die 200 000 industriellen Arbeitsplätze in Ostberlin, durch die Zusammenlegung der Stadtverwaltungen wurden weitere 100 000 Arbeitsplätze abgebaut. Im Westteil wiederum zerbrach die marode Scheinökonomie, weil in den neunziger Jahren nach und nach die Subventionen eingestellt wurden. Ältere türkische Taxifahrer können davon erzählen, wie sie einst für Betriebe wie Siemens angeworben wurden, um später hinter dem Lenkrad zu landen.

Seit 1989 erlebt die ehemalige Frontstadt einen rasanten Strukturwandel. In seiner Wucht und seiner Geschwindigkeit ähnelt er dem Beginn der Industrialisierung, dass die Entwicklung diesmal in umgekehrter Richtung verläuft. Die Massenarbeitslosigkeit – sie beträgt knapp 20 Prozent, rund eine halbe Million Menschen lebt von staatlichen Transferleistungen – bildet die Kulisse, vor der sich die urbanen Angehörigen einer ehemaligen Staatselite (der DDR) mit den neu Hinzugezogenen (aus der BRD) treffen.

Dabei entstehen Debatten, die zwar mit den Veränderungen des kapitalistischen Weltsystems zu tun haben, die hier aber besonders schrill klingen. Die Stadt scheint dank ihrer ost-westlichen Sonderstellung der ideale Nährboden für Experimente, aber auch für Abstiegsangst und Verunsicherung. Terrain für die extrem Wendigen des Kapitalismus, die Abenteurer, Seepferdchen und Machtbewussten. Provinzialismus und mondäne Glitzerwelt, Mitte und Wedding, liegen so dicht beieinander.

In einer solchen Situation purzeln Schlagworte wie die vom »neuen Prekariat« oder von der »digitalen Bohème« durch die Korridore der Redaktionen und Universitäten. In Karlsruhe könnten die Arbeiteranarchos von der Zeitschrift Wildcat noch weitere zwanzig Jahre über entgarantierte Jobverhältnisse sinnieren, niemand käme darauf, in ihnen die Vorreiter eines populären Trends zu sehen. Zu negativ, zu alt, zu klassenorthodox.

Ebenso wenig dürfte ein junger Mensch aus Hamburg-Blankenese, der sich tagsüber mit seinem Computer ins Cafe setzt, das Feuilleton zu gewagten Thesen animieren. Zu solitär, zu elitär, zu normal. Anders in Berlin. Die Benennung einer simplen Beobachtung kann hier den Master im Trend­scouting einbringen. Deutschlands Meinungsprofis schauen auf dieses »Laboratorium«, und die Berliner auf sie und sich selbst.

Die neue Chefredakteurin des Berliner Programmmagazins Zitty mag dafür als Sternchen der Stunde gelten. Sie forderte ultimativ, endlich das vernachlässigte Potenzial der jungen Kreativen abzuschöpfen. Dies ist zwar kaum mehr als die durchschaubare Werbung in eigener Sache, reicht aber, um ein beachtliches Gegrummel im benachbarten Feuilleton auszulösen. Für kreativ, jung und verkannt halten sich alle, die unter achtundvierzigeinhalb Jahre alt sind, einen Hochschulabschluss haben, aber mit ungesichertem oder zu niedrigem Einkommen in den innerstädtischen Bezirken leben (was individuell oft durchaus nachvollziehbar erscheint).

Vier von fünf akademisch Gebildeten, die ihre Lage so empfinden, dürften sich mehr oder minder stark von der so genannten Prekaritätsdebatte angesprochen fühlen, einschließlich zwei Dritteln von denen, die in den Berliner Feuilleton- und Lokalteilen die Diskurse verwalten. Das Unangenehme an der Sache ist nur, dass es sich hierbei derzeit zumeist um die egomanischen Opferdiskurse Zukurzgekommener handelt und in den wenigsten Fällen darum, dass Gleichheitsutopien verfochten werden, also etwas, was über den puren Ökonomismus hinausreichen müsste. So bleibt es überwiegend bei Gruppenrhetorik und Verteilungskampf zwischen – so wollen wir sie nennen – Kiezmolchen und Giraffen.

Die Kiezmolche vertreten ökonomistisch-regionalistische Ansichten und halten sich für die bevorzugten Adressaten künftiger etatistisch-keynesianistischer Wohltaten. Als Kiezmolche sind sie spezialisiert auf die territorial geerdeten Opferdiskurse; Neid und Statistik sind ihnen näher als Ideen von Solidarität und Gleichheit. Sie repräsentieren den fleischgewordenen Horror aus Sonderangeboten und Boulevardmedien, sind getrieben von der Sorge um die Teilhabe am Alltags- und Konsumschrott. Transzendenz? Aufhebung? Sublimierung? Keine Spur.

Die Giraffen hingegen sind die Prekären mit dem weißen Kragen, dem guten Benehmen und der Weltgewandt­heit. Diese Individualdarwinistenkosmopoliten, die sich qua kultureller und technischer Bildung und zuweilen der richtigen Familiengenealogie aus der Masse hervorheben, fühlen sich gerade in ihren jungen Jahren dem Kollektiv der Kiezmolche haushoch überlegen. Sie glauben daran, dass ihre Originalität und ihre einzigartige Persönlichkeit ihnen zu einer erfolgreichen Karriere verhelfen werden. Sie repräsentieren das Außenseitertum geschmeidiger Modernisierer. Wenn sie scheitern, mutieren sie jedoch im Herbst ihres Lebens oft zu Kiezmolchen.

Verunsicherte und verängstigte Subjekte sind alle, Kiezmolche und Giraffen. Prekär ist bei ihnen vor allen Dingen der eklatante Mangel an Biografien außerhalb der kapitalistischen Konformität. Prekarianer wie Digitalbohemiens erscheinen – zumindest überwiegend – als Gefangene protestantisch-ökonomistischer Werte. Zeitgemäße Hippies sind sie jedenfalls nicht. Die Begrenztheit der Entwürfe zeigt sich daran, dass sich beide Fraktionen bei erfolgreicher Eingliederung in den bestehenden Arbeitsmarkt im Nichts auflösen würden. Ist das das Ziel? Sollen die verschiedenen Tricks, mit denen man versucht, sich auf dem Markt der begrenzten Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten besser zu etablieren, das ganze Glücksversprechen der Zukunft sein?

Nichts gegen clevere und innovative Jungunternehmer, und nichts gegen materiell besser auszustattende, urbane akademische Grundrentner. Und nichts dagegen, SPD/PDS zu wählen und den Sozialstaat zu verteidigen. Und schon gar nichts dagegen, Möglichkeiten von Emanzipation auch in den neuen Technik- und Kapitalentwicklungen zu suchen. Doch da fehlt etwas, damit sich aus Bewahrung (Sozialstaat) und Fortschrittsglauben (Digitalisierung der Produktion) etwas anderes als ein neuer Konservatismus ergibt.

Wie gesagt, Berlin ist sehr speziell. Die in- und ausländischen Touristen lieben den Checkpoint Charlie und den Reichstag. Und gerade klopft es an meine Bürotür. Der neue Nachbar, der junge Student als Zeitreisender durch die linke Bürogemeinschaft, stellt sich vor. Womit er sich denn so beschäftigt? Mit der Prekarisierung junger Wissenschaftler. Aha, ich gerade auch.