Ein Fußbreit den Nazis

Stell dir vor, die Neonazis kommen und keiner geht hin. Wo war die Berliner Antifa beim Bundesparteitag der NPD? von markus ströhlein

Hat die Polizei eine Faustregel, in welcher Entfernung von dem Ort, den es zu schützen gilt, die Absperrgitter aufgestellt werden müssen? Hängt der Abstand proportional mit der Zahl der erwarteten Gegendemonstranten zusammen? Vielleicht im Verhältnis von einem Meter zu zehn Demonstranten?

Wenn ja, dann hatte die Polizei mit sehr großen Protesten gegen den Bundesparteitag der NPD in Berlin-Reinickendorf gerechnet. Bereits mehr als 200 Meter vor dem Fontanehaus, in dem die Partei am vorletzten Wochenende ihr Treffen abhielt, gab es kein Durchkommen mehr. Auch die NPD selbst musste ähnlich kalkuliert haben. Im großen Sitzungssaal des Gebäudes verstieg sich der wiedergewählte Parteivorsitzende Udo Voigt in seiner Abschlussrede in die Vorstellung von einer Welt, die sich ganz und gar gegen ihn und die Seinen verschworen hatte: »Zurzeit heißt es: Alle gegen uns!«

Vor der Tür ergab sich jedoch ein anderes Bild. An den Absperrgittern rund um das Fontanehaus lehnten lediglich gelangweilte Polizisten und Ordner. Ei­ni­ge Straßen weiter hatten sich zwar Gegendemonstranten eingefunden. Doch an diesem Sonntag waren es nur etwa 200. Am Tag zuvor hatten sich etwa 400 Protestierende versammelt.

Zu der Gegenkundgebung hatten die Landesverbände und die Abgeordnetenhausfraktionen der SPD, der CDU, der Linkspartei, der Grünen und der FDP aufgerufen. Die Veranstalter hatten mit 2 000 Teilnehmern gerechnet. Doch nicht nur die so genannte Zivilgesellschaft war lieber zu Hause geblieben. Auch die Berliner Antifa bevorzugte anscheinend ein Wochenende im Warmen und Trockenen.

Keine einzige Gruppe aus Berlin hatte eine Gegendemonstration angekündigt. Obwohl die NPD stolz den »ersten Parteitag in der Reichshauptstadt« angekündigt hatte. Antifas, die angereist wa­ren, um gegen das Treffen zu protestieren, muss­ten ihrem Ärger über die Berliner Genossen auf Indymedia Luft machen: »Ich habe jetzt definitiv die Fresse voll, weiterhin nach Berlin zu fahren, um mir ansehen zu müssen, dass die Antifa in Berlin es nicht mehr schafft, auch nur im Geringsten etwas auf die Beine zu stellen.«

Nachdem bereits der Protest gegen einen Aufzug von Neonazis vor der Justizvollzugs­anstalt Tegel Ende Oktober schwach geblieben war, kam ein anderer zu dem Schluss: »Berlin sollte sich schämen! Selbst in der Kleinstadt wird besser gegen die Neonazis mobilisiert.«

In Leipzig, Hamburg, Nürnberg und Chemnitz gingen im Oktober jeweils mehrere tausend Menschen auf die Straße, um Aufzüge von Neonazis zu verhindern. Schaffen es die Berliner nicht? Ein Mitglied einer Gruppe aus dem Berliner Nordosten versucht, eine pragmatische Erklärung zu finden: »Der Ort des Parteitags stand ja bis zuletzt nicht fest. So kurzfristig kann man natürlich nur schwer etwas auf die Beine stellen. Der Vorgang zeigt aber schon, dass nur ein geringes Reaktionsvermögen besteht. Und letztlich muss man ihn doch als großes Versagen einstufen.«

Die Antifaschistische Linke Berlin (ALB) hatte die Neuigkeit vom NPD-Parteitag zwar auf ihrer Internetseite gemeldet. Zu einer Kundgebung rief sie aber nicht auf. »Das war eine Frage der Zeit. Viele Leute haben sich an dem Wochenende an den Anti-Castor-Protesten im Wendland beteiligt. Außerdem liefen schon die Vorbereitungen für die Silvio-Meier-Demo und für die Veranstaltungen, die damit zusammenhängen«, gibt eine Aktivistin der ALB Auskunft. »Wir haben dann auch deshalb nicht aufgerufen, weil die wenigen verbleibenden Leute der Polizei ins offene Messer gelaufen wären. Die Polizeipräsenz rund um den Partei­tag war ja recht hoch«, sagt sie weiter.

Castortransport, Silvio-Meier-Demo, Kundgebungen gegen das »Heldengedenken« in Halbe und den Volkstrauertag – wer den Jahreskalender der Antifa abarbeiten will, hat einiges zu tun. Dass in Berlin zu wenig geschehe, kann eine Antifaschistin aus der mitt­ler­weile aufgelösten Gruppe Kritik und Praxis (KP) nicht bestätigen: »Ich denke, es findet eher zu viel statt. Auch wenn es seltsam klingt: Manche sind vielleicht übersättigt und lassen dann schon einmal einen NPD-Bundesparteitag sausen.« Dennoch lasse sich eine gewisse Entwicklung be­obach­ten. »Viele Antifagruppen wollen nicht mehr nur einfach reagieren, wenn irgendwo Neonazis eine Kundgebung oder eine Veranstaltung abhalten. Sie ergreifen lieber selbst die Initiative und organisieren z.B. eine eigene Kampagne, wie es die ALB in Berlin-Lichtenberg getan hat.« Darüber hinaus halte sie es für wenig sinnvoll, mit den Vertretern der Zivilgesellschaft gegen die NPD zu demonstrieren und sich so für das »bessere Deutsch­land« instrumentalisieren zu lassen. In ihrer Gruppe sei dies aber keinesfalls der Konsens.

Ein älterer Antifaschist findet deutliche Worte: »Warum hätte ich zu einer Kundgebung gegen den NPD-Parteitag gehen sollen? Da standen doch nur die Vertreter aller Parteien herum, um ihr gutes Gewissen zur Schau zu stellen. Das hat für mich nichts mit linksradikaler Politik zu tun.« Nicht nur in Berlin bezweifeln einige, dass die klassische Antifapolitik noch zeitgemäß ist. In Köln nahmen am Montag Vertreter der Gruppe Measures against Discouragement (MAD) und der Georg-Weerth-Gesellschaft an einer Podiums­diskussion teil mit dem Titel: »Antifa 2006 – Teil des Kampfes ums Ganze oder konformistische Rebellion?« Ob die Antifa die Fähigkeit zur fundamentalen Gesellschaftskritik verloren habe und mittlerweile eine staatstragende Kraft sei, stand als Frage am Ausgangspunkt.

Eine ganz andere Theorie hat der Verfasser eines Kommentars auf Indymedia entwickelt, der die Überschrift »Castor oder Nazis« trägt: »Ihr müsst euch entscheiden! Es war mir klar, dass der Verfassungsschutz versuchen würde, besonders viele Naziaktivitäten zu organisieren, um den Widerstand im Wendland zu brechen bzw. zu mindern.« Auf derart plumpe Ablenkungsmanöver fallen antifaschistische Atomgegner natürlich nicht herein.