Schön und jung und stark

Wie jede Schicht, die einen materiellen Niedergang erfährt, schwanken die Kopfarbeiter zwischen Rebellion und Reaktion. Hierzulande überwiegt derzeit die Reaktion. von paul müller

Ähnlich wie der sprichwörtliche und verhasste BMW-Fahrer, der glaubt, in seinem Auto ein Vorfahrtsrecht eingebaut zu haben, hält sich der durchschnittliche Kopfarbeiter für eine besondere Spezies, der gleichsam von Natur aus all das zusteht, was dem Normalproleten selbstverständlich versagt bleibt: erfüllende Arbeit und ein gut gefülltes Konto. Doch immer seltener bewegt sich der Universitätsabsolvent als überlegene Luxuskarosse auf dem Arbeitsmarkt, immer häufiger erscheint er als klapprige Schrottmühle, die ständig Gefahr läuft, aus dem Verkehr gezogen und auf dem Schrottplatz namens Sozialamt entsorgt zu werden. Wer mit einem Abschluss in Germanistik die Universität verlässt, hat eher die Aussicht, für einen Hungerlohn Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten oder als standesgerecht eingesetzter Ein-Euro-Jobber Bibliotheken zu entstauben, als eine Anstellung in der Medien­welt zu bekommen.

Neu ist nicht die Proletarisierung von geistiger Arbeit, schon im 18. Jahrhundert verdingten sich brotlose Intellektuelle vornehmlich als Hauslehrer und mit der Entwicklung des Pressewesens im 19. Jahrhundert als Journalisten. Neu ist, dass diese Entwicklung nicht mehr bloß einen kleinen, exklusiven Teil der Gesellschaft betrifft. 1930 konnte Walter Benjamin noch notieren, »dass selbst die Proletarisierung des Intellektuellen fast nie einen Proletarier schafft. Warum? Weil ihm die Bürgerklasse in Gestalt der Bildung von Kindheit auf ein Produktionsmittel mitgab, das ihn aufgrund des Bildungsprivilegs mit ihr und, das vielleicht noch mehr, sie mit ihm solidarisch macht.«

Mit dem Wandel von Bildung und Kultur, die einst den Heiligenschein der aufgeklärten Bürgerklasse ausmachten, zu universitärer Ausbildung und Kulturwirtschaft wurden Intellektuelle und Künstler zu Text- und Kulturproduzenten, zu Beschäftigten eines kapitalistischen Produktionszweigs. In der Zeit des Übergangs, in den vierziger Jahren, fanden Adorno und Horkheimer dafür den Begriff »Kulturindus­trie«; ein Begriff, der seine polemische Stärke verloren hat, weil die Verbindung von Kultur und Industrie nicht mehr als anstößig, sondern als selbstverständlich gilt. Die Bildung aber wurde nicht nur zur Ausbildung. In den Jahren nach 1945 und insbesondere nach 1968 wurde sie enorm ausgeweitet, was die von Benjamin beschriebene Privilegierung der Intellektuellen zumindest ramponiert hat.

Wie jede Schicht, die einen materiellen Niedergang erfährt, schwanken die Kopfarbeiter zwischen Rebellion und Reaktion, revoltieren hier zusammen mit anderen Proletarisierten, pochen da eifersüchtig auf ihre Qualifikation. 1977 hatte sich in Italien die Zahl der Studierenden binnen eines Jahrzehnts auf eine Million fast verdoppelt, von denen sich die meisten ohne jede Aussicht auf eine bürgerliche Karriere mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs durchhangelten. Deutlicher als anderswo war die Universität zum Auffangbecken für überschüssige Arbeitskraft geworden, und diese Konstellation explodierte in den späten siebziger Jahren in einer Massenrevolte.

Der Aufstand der »Arbeiter-Studenten« von 1977 bildet den bisherigen Höhepunkt in der noch kurzen Bewegungs­geschichte der Kopfarbeiter, während die Aktionen der französischen Kulturprekären vor drei Jahren und die maßgeblich von Schülern und Studenten getragenen Proteste im Frühjahr dieses Jahres gegen die Aufhebung des Kündigungsschutzes für junge Leute immerhin zeigen, dass sie im Bündnis mit anderen Lohnabhängigen defensive Kämpfe zu führen vermögen.

In Deutschland hingegen hat der erodierende Status der Kopfarbeiter außer gelegentlichen Studentenstreiks nur zur aus­ufernden Selbstbespiegelung des Human­kapitals der creative industries geführt. Die linken Kulturproduzenten haben ihre Prekarität als etwas entdeckt, das sich vorzüglich als Gegenstand meist staatlich finanzierter Symposien, Ausstellungen, Filme und dergleichen mehr eignet. Optimistisch ließe sich die allgegenwärtige Rede von der Prekarität als schüchternes Vortasten an die eigene Proletarisierung deuten, wie auch der häufig geäußerte Wunsch, mit anderen »Prekären« zusammenzukommen, den Solidaritätsgedanken der alten Arbeiterbewegung aufgreift.

Warum aus diesen Absichtserklärungen nichts wird, konnte man im vorigen Jahr exemplarisch auf der Berliner Konferenz »Klartext« beobachten, die sich dem »Status des Politischen in aktueller Kunst und Kultur« widmete. Die anwesenden Kulturproduzenten sinnierten über das unangenehme Verschwimmen von Arbeit und Freizeit, ohne die selbst gewählte Rolle in Zweifel zu ziehen. Dabei ist es diese Rolle, die diese Vermischung zwangsläufig mit sich bringt, weil sie von nichts anderem zehrt als dem dubiosen Versprechen, innerhalb der bestehenden Verhältnisse die ökonomische Reproduktion als Selbstverwirklichung bewerkstelligen zu können.

Anders als die Arbeitskraft des Fliesenlegers ist die des Kulturproduzenten daher unauflöslich mit seiner ganzen Person verbunden. Im fortwährenden Zwang, als überaus kreativer und unverwechselbarer Zeitgenosse zu wirken, west der alte Geniekult nach dem Ende der bürgerlichen Hochkultur als Karikatur fort. So verwundert es nicht, dass die Vertreter politischer Initiativen, die dieser Konferenz den Augenschein gesellschaftlichen Bewusstseins verleihen sollten, sich an dem Wehklagen frustrierter Künstler über diesen Zwang recht desinteressiert zeigten.

Die Grenze des Prekaritätsbegriffs zeigt sich im Fall der Kulturproduzenten besonders deutlich. Sein Gegenbegriff lautet soziale Sicherheit, womit sich die Perspektive darin erschöpft, die bestehende Arbeitsteilung kommoder auszugestalten anstatt sie umzuwälzen. Nichts ist den linken Kulturproduzenten daher mehr ein Graus als die situationistische Kritik der Kunst, die ihrer falschen Aufhebung durch die Kulturindustrie, dem Spektakel, ihre wirkliche Aufhebung entgegenhielt. Die linken Kulturproduzenten hingegen verharren borniert auf ihrer abgetrennten Spielwiese und träumen davon, ihre ökonomisch missliche Lage vom Staat qua Grundeinkommen versüßt zu bekommen.

Das ist nicht subversiv, und angesicht des historisch erreichten Niveaus von Kritik und Bewegung zweifellos ein Rückschritt, nimmt sich aber schon fast wieder sympathisch aus, wenn man das mit den derzeit tonangebenden Ideologen der Kopfarbeiter vergleicht. Auf die Entwertung intellektueller Arbeitskraft reagieren diese mit aggressiver Larmoyanz oder Wunderheilerglauben an pfiffige Geschäftsmodelle.

Der Unwille der linken Kulturproduzenten, die eigene Funktion als Humankapital der Kulturindustrie in Frage zu stellen, radikalisiert sich zur stolz vorgetragenen Überzeugung, Vorbote eines neuen Kapitalismus der unbeschränkten Kreativität zu sein. Unter dem Titel »Meine Armut kotzt mich an« erklärte unlängst das Berliner Stadtmagazin Zitty pampig: »Wir sind hip, hoch qualifiziert, diffus kreativ und arm. Urbane Penner eben. (…) Dabei tragen wir mit unserer kleinteiligen Wirtschaft sicher mehr zum Bruttosozialprodukt bei als andere.« Dies nicht gebührend zu würdigen und das ungeheure Potenzial der verarmten Kreativen zu verkennen, lautete der beleidigte Vorwurf an die Staatsmacht.

Die besser verdienenden »urbanen Penner« inszenieren sich derweil als »digitale Bohème« und empfehlen der aufstiegswilligen Jugend, es ihnen gleich zu tun: Laptop kaufen, soziale Netzwerke bilden und einfach unbeirrbar an die eigenen Ideen glauben, auf die die Welt gewartet hat. Schon klingeln die Kassen, zumindest reicht es für ein angenehmes Leben – und das bei voller Selbstbestimmung!

Das von den linken Kulturproduzenten in schwachen Momenten bejammerte Einsickern der Arbeit ins Leben wird als nonkonformistisches Gegenmodell zum Leben der Langweiler mit Festanstellung gefeiert. Die neuen Bohemiens schätzen sich glücklich, rund um die Uhr ihren Geschäften, ihren »Projekten« nachzugehen, also immerzu mit dem eigenen Fortkommen als Kopflanger der Werbe- und Medienindustrie beschäftigt zu sein. Was andere als abgeschmackt empfinden würden, nämlich Freunde und Bekannte als »soziales Kapital« zu betrachten, erscheint ihnen als normalste Sache der Welt.

Jede gesellschaftliche Krise bringt ihre obskurantistischen Heilsprediger hervor. Im Fall der »digitalen Bohème« heißen sie Holm Friebe und Sascha Lobo. Auch die als Bohemiens verkleideten Apologeten der Verhältnisse warten nur mit dem auf, was die bürgerliche Gesellschaft schon immer zu bieten hatte: die Utopie des demokratischen Marktes, auf dem jeder mit seinen Ideen und Talenten reüssieren kann, gepaart mit dem Versprechen, die neueste technologische Erfindung, in diesem Fall das Internet, werde es schon richten. Über die Verallgemeinerbarkeit ihres grandiosen Erfolgsmodells für die Masse der Kopfarbeiter braucht man keine Worte zu verlieren, und um andere Lohnabhängige geht es ohnehin nicht.

Der faule Zauber wäre nicht der Rede wert, speiste er sich nicht aus einer ungeheuren aggressiven Energie. Holm Friebes Klage, der heutige Kapitalismus zeige sich in seiner Arbeitsorganisation »erstaunlich störrisch und bockig«, weil »die Festanstellung nach wie vor als alternativlos angepriesen« werde, ist etwa so treffend und so fortschrittlich wie der Vorwurf an die katholische Kirche, es mit dem Feminismus zu übertreiben. Bei Lichte betrachtet erweisen sich die Propheten der »digitalen Bohème« als Propagandisten der effizienteren Ausbeutung. So antwortet Friebe in einem Interview auf die Frage, warum die Festanstellung nicht mehr »zeitgemäß« sei: »Das beginnt damit, dass man für seine Arbeitszeit – also die schiere physische Anwesenheit – bezahlt wird und nicht für die geleistete Arbeit. Die Produktivität sinkt dadurch enorm.«