Hutu Power in Paris

Die französische Justiz will ruandische Politiker vor Gericht stellen. Die Anklage will nachweisen, dass sie den Völkermord im Jahr 1994 bewusst provoziert haben. von bernhard schmid, paris

Der Pariser Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière hat ein Ziel: Er will die Staatsspitze des ostafrikanischen Landes Ruanda hinter Gitter bringen. In der vergangenen Woche ließ er gegen neun enge Mitarbeiter des ruandischen Präsidenten Paul Kagame einen internationalen Haftbefehl ausstellen und an Interpol übermitteln. Unter ihnen befinden sich der Gene­ral­stabs­chef der ruandischen Armee RPA, James Kabarebe, die Protokollchefin im Präsidentenamt, Rose Kabuye, und der ruandische Botschafter in Indien, Faustin Nyamwasa-Kayumba. Mit dem Haftbefehl klicken zwar noch keine Handschellen, aber sobald eine dieser Personen den Boden eines Landes betritt, das einen Auslieferungsvertrag mit Frankreich unterschrieben hat, oder in die Europäische Union einreist – wo Polizei- und Justizbehörden zur Zusammenarbeit verpflichtet sind –, kann der Haftbefehl vollstreckt werden. An Präsident Kagame selbst kommt der französische Richter auf diesem Wege nicht heran, da der ruandische Politiker nach internationalem Recht Immunität als Staatsoberhaupt genießt. Deshalb zielt er auf die engste Umgebung des Präsidenten.

Bruguière wirft Kagame ein Verbrechen im Zusammenhang mit dem Genozid vor, der von April bis Juni 1994 in Ruanda stattgefunden und 800 000 bis eine Million Tote hinterlassen hat. Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler, der sofort ins Auge sticht: Bei den von Bruguière Angeklagten handelt es sich ausschließlich um Tutsi. Die große Mehrheit der Opfer des Völkermords sind Tutsi, die damals von den Milizen der rassistischen Bewegung »Hutu Power« massakriert wurden. Die Bewegung »Hutu Power« hatte sich seit 1990 innerhalb des Regimes formiert und ergriff selbst im April 1994 die Macht.

Paul Kagame ist der ehemalige Chef der Rebellenbewegung »Rwandan Patriotic Front« (RPF), die seit ihrer Gründung im Jahr 1985 die Interessen von Tutsi vertrat, die wegen rassistischer Verfolgung aus Ruanda in das Nachbarland Uganda geflohen oder vertrieben worden waren. Von 1990 bis 1994 führte die RPF einen bewaffneten Kampf gegen das damalige ruandische Regime. Als die RPF im Sommer 1994 den Krieg gewann und Ruandas Hauptstadt Kigali einnahm, setzte sie dem Massaker ein Ende. Sie wurde zur ruandischen Regierungspartei, die noch heute an der Macht ist.

Es gab also Erklärungsbedarf für den Richter, warum er gerade gegen ehemalige Chefs der RPF im Zusammenhang mit dem Völkermord Anklage erhebt. Das politische Interesse, das die französische Staatsspitze damit verbinden kann, liegt auf der Hand: Frankreich war 1994 aktiv am Krieg beteiligt, es führte Krieg an der Seite der offiziellen ruandischen Streitkräfte gegen das Vordringen der RPF.

Juristisch führt Bruguière nun folgende Konstruktion ins Felde: Den Beginn des Völkermords, der am 7. April 1994 anfing, markiert der Abschuss des Präsidentenflugzeugs mit dem damaligen Staatsoberhaupt Juvénal Hab­yari­mana an Bord, der am Vorabend erfolgt war. Ungeklärt ist, wer das Flugzeug des Präsidenten abgeschossen hat. Die Rebellen der RPF? Die Extremisten von »Hutu Power« innerhalb des Regimes, die dadurch freie Hand gewannen und ihre moderateren Verbündeten loswurden? Oder ausländische Söldner?

Die beiden letztgenannten Hypothesen hätten einige Wahrscheinlichkeit, aber der Richter hat sie nicht einmal überprüft. Er behauptet vielmehr, die RPF habe das Flugzeug abgeschossen und dadurch bewusst den Völkermord an den Tutsi ausgelöst. Denn dies habe ihr »das legitime Motiv« geliefert, »die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen und die Macht mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu übernehmen«.

Dieses Konstrukt hat den Haken, dass die Logik dagegen spricht. Der Genozid in Ruanda war keineswegs eine »spontane« Reaktion auf ein Attentat. Vielmehr war er seit Jahren geplant, konzipiert, gerechtfertigt und angekündigt worden. Seit dem Sommer 1993 präsentierte der Sender »Radio des mille collines« in kaum verhüllten Worten Tutsi als zu eliminierendes Ungeziefer. Ebenfalls 1993 war eine Großlieferung an Macheten für Ruanda bei der Volksrepublik China bestellt worden – angeblich für die Landwirtschaft. Doch vor allem mit diesen Macheten wurde der Völkermord verübt. Ihm lagen Rassentheorien zugrunde, die die deutschen und später die belgischen Kolonialherren nach Ruanda exportiert hatten. Aber die Hutu-Extremisten waren es, die dem Rassenhass Konsequenzen folgen ließen.

Das politische Kalkül der französischen Staatsführung liegt auf der Hand: Es gilt, den schweren Vorwurf zu entkräften, Frankreich habe damals de facto die Völkermörder politisch und militärisch unterstützt. Hohe französische Militärs, die 1994 in Ruanda eingesetzt waren, wie der General Jean-Claude Lafourcade, triumphieren bereits gegenüber der Presse, nun sei endlich Schluss mit den »einseitigen« Darstellungen und »Anklagen«, die Geschichte müsse nun »korrekt umgeschrieben« werden.

Doch allmählich beginnt das Entsetzen darüber, was die Wahrheit über Frankreichs einstiges Engagement in Ruanda sein könnte, in der französischen Öffentlichkeit durchzudringen. In den vergangenen Wochen lehnten die größten überregionalen Tageszeitungen, Libération, Le Monde und Le Figaro, allesamt das Raisonnement von Bruguière ab und wiesen darauf hin, dass der Völkermord geplant und nicht spontan durch das Attentat auf den Präsidenten ausgelöst worden sei.

Die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde hatte noch 2004, aus Anlass des zehnten Jahrestags des Genozids, ihren damaligen Afrika-Spezialisten Stephen Smith die offizielle französische Version gegen alle Zweifler in Schutz nehmen lassen. Ihm zufolge war die RPF die Hauptschuldige am Genozid. In diesem Jahr hat sich die Meinung der Zeitung geändert, und ihr derzeitiger Ostafrika-Korrespondent, Jean-Philippe Rémy, konnte die »Beweiskette« von Bruguière gnadenlos demontieren.

Ruanda seinerseits hat die nötigen Konsequenzen gezogen. Es brach am vorletzten Wochenende sämtliche diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ab, zog seinen Botschafter aus Paris ab und ließ französische Einrichtungen in Kigali schließen. Zwei Mal demonstrierten rund 25 000 Menschen gegen die französische Politik. Zugleich legte die offizielle Presse ausdrücklich Wert darauf zu betonen, man verurteile eine bestimmte Politik und ihre Protagonisten und nicht die gesamte französische Bevölkerung.