Tief im Wedding

Der Wedding ist einer der ärmsten Bezirke der Republik. Gerade deswegen hat sich dort die »Villa« angesiedelt. von david zorn

In der Ladenwohnung in der Utrechter Straße im Wedding herrscht ein kleines Tohuwabohu. Kinder rennen schreiend herum, spielen Fangen und benutzen die anwesenden Erwachsenen als Hindernisse. Die Platte eines kleinen runden Tisches ist über und über mit Mehl bestreut. Aus einem der hinteren Zimmer tönen, mal mehr, mal weniger gelenk auf dem Klavier gespielt, der Floh­walzer und andere musikalische Meisterwerke. Über allem hängt der Geruch von frisch gebackenen Plätzchen. Es ist Kindertag in der »Villa«.

So etwas wie ein Kindertag war eigentlich gar nicht vorgesehen. Als sich vor rund einem Jahr etwa zehn Leuten zusammenfanden, die in einen der Stadtteile ziehen wollten, deren Bezeichnung in der Öffentlichkeit zwischen »Problembezirk« und »Ghetto« changiert, taten sie das, um dort langfristig linksradikale ­Basisarbeit zu betreiben.

In gewisser Weise standen die italienischen »Centri Sociali« und die amerikanischen »Worker Centers« bei der Gründung der Villa Pate. Doch Steen, der einige Zeit in Argentinien verbracht und dort Organisa­tio­nen der Arbeitslosen, der so genannten Piqueteros, kennen gelernt hat, betont, dass man mit der Villa nicht bloß ein weiteres der üblichen Politprojekte ins Leben rufen wollte, schließlich hätten einige bereits konkrete Erfahrungen gesammelt. »Deswegen ist das nicht einfach nur eine abstrakte Sache gewesen, in der Art: Das ist doch eine gute Idee, lasst sie uns mal ausprobieren.« Vielleicht spielte ja auch der Mythos des Roten Wedding eine Rolle bei der Entscheidung, sich als Kollektiv mit so einem Projekt im alten Arbeiterbezirk anzusiedeln. Die Realität sah dann aber doch etwas anders aus. »Du bist doch ein Prenzlberger Student!« sagten anfangs die Jugendlichen aus dem Kiez misstrauisch.

Auf den ersten Blick ist die traurige Realität des Wedding nicht leicht zu erkennen. Nichts deutet erst mal darauf hin, dass es einer der Berliner Bezirke mit der niedrigsten Lebenserwartung ist. Die Müllerstraße wirkt nicht viel anders als die Neuköll­ner Karl-Marx-Straße oder gar die Hauptstraße im etwas besseren Viertel Schöneberg. Neben den üblichen Handy-Läden, Friseursalons und Nagelstudios gibt es die ganze Palette an Einzelhandelsunternehmen, Versicherungen und Banken. Am Leopoldplatz gibt es »Karstadt«, genau wie am Hermannplatz. Trotz der winterlichen Kälte sind viele Leute geschäftig unterwegs.

Die Kioskbetreiberin Kirsten Fladung hat seit fünf Jahren ihren Laden an der Müllerstraße. Davor war sie arbeitslos, wie so viele, die hier leben. Ob die Situation sich in dieser Zeit verschlechtert habe, mag sie nicht sagen: »Ich will ja nicht verallgemeinern. Was mich aber beschäftigt, sind vor allem die jungen Leute, von denen immer mehr von Hartz IV leben.« Sie verkauft in ihrem Kiosk neben Zeitschriften, Zigaretten und Lot­terielosen auch Fahrkarten, von denen sie in letzter Zeit immer mehr zum Sozialtarif verkauft.

Jeder dritte Erwachsene, vor allem sol­che aus Einwandererfamilien, hat hier keine berufliche Ausbildung. Der Sozialstrukturatlas Berlin aus dem Jahr 2003 weist den Wedding als einen der Bezirke mit der höchsten Arbeitslosenquote aus. Sie lag zum Zeitpunkt der Studie über 25 Prozent, und es lebte »nahezu jeder sechste Einwohner von Sozialhilfe«. Daran hat sich in den vergangenen drei Jahren nichts Grundsätzliches geändert, auch wenn die Stütze jetzt anders heißt. Ein Drittel derer, die staatliche Unterstützung erhalten, sind Kinder und Jugendliche.

Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Utrechter Straße sind dafür repräsentativ. »Hier gibt es kaum einen, der Arbeit hat«, sagt Steen. Viele beziehen Hartz IV, selbst wenn sie irgendeinen Job haben. Dazu gesellt sich die übliche Elendsökonomie, es wird gestohlen und gedealt. Es gibt auch eine klare Hackordnung unter den Migranten, je nach dem, ob sie oder ihre Familien aus der Türkei, dem arabischen Raum, aus Polen oder aus Afrika gekommen sind. Afrikaner sind hier die Underdogs.

Die Leute aus der Nachbarschaft betrachteten die Villa zunächst wie einen Fremdkörper. Das Projekt erschien ihnen obskur. Irgendwie geschah es aber, dass sich auf einmal die Kids von der Straße in der Villa einfanden. Sie kamen überwiegend aus Familien in schwie­ri­gen Verhältnissen, hatten zu Hause keinen Platz für sich wegen der Geschwis­ter, und auch sonst gab es außerhalb der Schule keinen Raum für sie. »Sie fanden uns neu, witzig und verrückt« und hätten einen offenen Raum vorgefunden, zählt Steen die Gründe auf, warum sich im Haus die Schar von neun- bis 14jährigen tummelt. Mittlerweile habe man über die Kinder auch bei den Erwachsenen in der Nachbarschaft einiges an Vertrauen gewonnen. »Wir wollen aber nicht die Rolle von Sozialarbeitern einnehmen«, betont Steen. Deshalb haben die Kinder nur einen festen Tag in der Woche.

Die Grundidee war es schließlich, in die sozia­len Verhältnisse zu intervenieren, in einem der Bezirke, in denen die Schädlichkeit des Kapitalismus am deutlichsten sichtbar ist. Mit der Villa sollte eine Anlaufstelle, ein Ort der Kommunikation entstehen. Dabei verschätzte man sich durchaus in vielen Dingen. So machte etwa vor einiger Zeit ein offener und offensichtlich rassistischer Brief im Kiez die Runde. Deutsche beschwerten sich darin über ihre türkischen Nachbarn. Sie seien laut, ihre Kinder lungerten auf der Straße herum und derlei Unannehmlich­keiten beeinträch­tigten die Lebensqualität.

Daraufhin wurde ein »Kiezplenum« einberufen, zu dem auch Leute von der Villa gingen, um in guter linker Manier gegen die Rassisten einzuschreiten. Es gab in der Auseinandersetzung dann aber eine unerwartete Wende, die wenig mit der Interven­tion zu tun hatte. Ein Türke kritisierte den Deut­schen, der den Brief verfasst hatte, indem er darauf hinwies, dass sie schließlich alle, ob Ausländer oder Deutsche, Weddinger seien und die gleichen Probleme im Alltag teil­ten. Wider Erwarten machte diese Rede Eindruck, und es entspann sich eine Diskussion über die gemeinsamen Probleme.

Ganz ohne Intervention der Linken entstand dort im Ansatz etwas, wozu die Leute aus der Villa auch beitragen wollten: dass Menschen miteinander über ihre gesellschaftliche Situa­tion ins Gespräch kommen und bestenfalls beginnen, sich selbst zu organisieren. Leider hat sich aus dem »Kiezplenum« aber nichts weiter entwickelt.

Am Abend des Kindertages kommt Sakina, eine Frau aus Mazedonien, die in der Nachbarschaft lebt, ihren Sohn und ihre Tochter abholen. Sie ist sichtlich angetan von der Villa. Offen­bar ist sie zum ersten Mal hier, denn sie wundert sich darüber, dass es sich bei dem Haus nicht um eine staatliche Einrichtung handelt. »Und was macht ihr hier?« fragt sie. »Wir sind ein politisch-kulturelles Projekt«, antwortet Steen. Ein großes Fragezeichen erscheint auf ihrem Gesicht. »Wir machen auch Hartz-IV-Beratungen«, fährt er fort. »Ah ja, da im Fenster ist auch ein Zettel. Das ist gut«, sagt Sakina. »Ich lese diese Papiere und ich verstehe nicht immer alles.«

»Das sind die Kleinigkeiten, die so wichtig sind«, sagt Steen später, als alle anderen weg und die Rollläden heruntergelassen sind. Es seien diese kleinen Erfolge, die das Kollektiv weitermachen ließen.