Das LKA sorgt vor

Nachdem zwei Neonazis in Berlin-Lichtenberg verprügelt wurden, sitzt ein Antifa in Untersuchungshaft. Ihm wird versuchter Totschlag vorgeworfen. von john doe
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Stefanie Piehl und Sebastian Zehlecke sind jung, sportlich, tragen gerne schwarze Kleidung und sind politisch engagiert. Leider haben sie im Geschichtsunterricht nichts verstanden. Sie sind Neonazis. Sie gehören zum harten Kern der militanten Kameradschaftsszene in Berlin-Lichtenberg und sollen wiederholt an neonazistischen Übergriffen beteiligt gewesen sein.

Ende November vorigen Jahres wurden die beiden von drei dunkel gekleideten und maskierten Personen am Bahnhof Lichtenberg angegriffen. Die Neonazis trugen einige Prellungen und Platzwunden davon. Zehlecke brach sich zudem während der Auseinandersetzung einen Finger. Da Piehl und er gezielt angegangen, aber nicht beraubt wurden, gilt als sehr wahrschein­lich, dass es sich bei den Angreifern um autonome Antifas handelte.

Der Berliner Staatsschutz eilte sofort nach dem Angriff zur Befragung ins Krankenhaus. Und kaum waren die Neonazis mit ein paar Pflastern und Kopf­schmerztabletten entlassen worden, tippten die Beamten schon die erste Presseerklärung. Denn alle Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, insbesondere diejenigen in dem Ostberliner Problembezirk, werden von ihnen mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht.

Der Lichtenberger Weitlingkiez ist die Home­zone von Neonazis wie Piehl und Zehlecke. Immer wieder kommt es hier zu gewalttätigen neonazistischen und rassistischen Übergriffen. Seit Antifa-Gruppen begonnen haben, mit der Kam­pagne »Hol dir den Kiez zurück!« gegen die rechtsextremistische Hegemonie vorzugehen, befürchtet das LKA eine gewaltsame Eskalation zwischen Antifas und Neonazis. Der Antifa Seong Ireum, der die Kampagne unterstützt, sagte dazu: »Es wird da von einer drohenden Gewaltspirale gefaselt, für die es gar keine realen Belege gibt. Da wird behauptet, dass die erfolgreiche Antifa-Intervention die No-Go-Area Lichtenberg erst zum gefährlichen Pflaster machen würde. Ganz so, als ob die Gewaltexzesse der Nazis gegen Migranten, Behinderte, Obdachlose, Schwule, Lesben und Linke dort erst mit unserem Eingreifen begonnen hätten.«

Einige Tage nach dem Angriff am Bahnhof Lichtenberg meldeten sich die Neonazis beim LKA und behaupteten, der Antifa »Matti« sei einer der Angreifer gewesen, sie würden ihn von diversen Demonstrationen und Kundgebungen kennen. Offenbar glauben sie, ihre politischen Gegner der­art gut zu kennen, dass sie sie sogar vermummt zu erkennen meinen. Weiterhin behaupteten die Neonazis auf ihrer Internetseite, die Angreifer hätten gerufen: »Nazischweine, wir bringen euch um!« Die Aus­sage der Neonazis brachte die Ermittler vom Staatsschutz dazu, ein Verfahren wegen ver­suchten Totschlags gegen »Matti« einzuleiten. Die Beamten durchsuchten am 12. Dezember seine Wohngemeinschaft und beschlagnahmten diverse dunkle Kleidungsstücke. Im Briefkasten fanden die Beamten zudem einen verbotenen so genannten Totschläger. Seitdem befindet sich der 21jährige in Haft.

Für Seong Ireum ist der Fall klar: »Hätte sich das Ganze auf dem Pausenhof der Rütli-Schule oder dem Parkplatz irgendeiner Bowlingbahn in Marzahn abgespielt, wäre garantiert kein LKA-Beamter auf die Idee gekommen, versuchten Totschlag zu unterstellen.« Ermittlungsrichter und Staats­anwalt spielten willige Komplizen des Staats­schutzes und unterstützten deren Hirngespinste. Angesichts der angeblich so angespannten Situation in Lichtenberg sei man wohl der Meinung, dass es mit einem Antifa garantiert nicht den Falschen treffen könne.

Die von einigen Linken und Freunden »Mattis« gegründete Solidaritätsgruppe erklärte: »Totschläger schlagen andere Menschen tot, sind fies und brutal – solche Leute sind aus gutem Grund unbeliebt. Mit diesem Tatvorwurf soll nicht nur jede Form von Solidarisierung erschwert werden, sondern auch der moralische Vorschuss, den die antifaschistische Bewegung aufgrund der Legitimität ihres Anliegens genießt, zerstört werden.« Die Antifa-­Szene ist über den Vor­wurf des versuchten Totschlags geradezu gekränkt und empört sich mehr darüber als über die Tatsache, dass einer der ihren gerade auf Jahre im Gefängnis zu verschwinden droht. Auch Seong Ireum betont: »Wir schlagen doch keine Leute tot – und seien sie noch so widerwärtig. Das widerspricht schlichtweg unserem politischen Selbstverständnis.«

Dabei sind derartige Vorwürfe nichts Neues. Erst im vergangenen Jahr hatte eine Ermittlungsbehörde in Potsdam ein Verfahren wegen versuch­ten Mordes gegen eine Gruppe junger Antifas angeregt. Damals gab es in Potsdam eine Reihe von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Antifas und Neonazis. Da auf beiden Seiten Personen mit Berliner Wohnsitz mitmischten, wollten auch die Staatsschützer aus der Hauptstadt nicht fehlen. Sie unterstützten ihre Kollegen mit einer eigenen Ermittlungsgruppe und be­obach­te­ten die Ereignisse genau.

Nachdem ein bekannter Rechtsextremist von einer Gruppe von vier Autonomen angegriffen und leicht verletzt worden war, wurde eine junge Antifa zunächst wegen ver­suchten Mordes angeklagt, sie verbrachte mehrere Monate in Untersuchungshaft. Das Landgericht Potsdam verurteilte sie schließlich in der Hauptverhandlung zu einer Bewährungsstrafe wegen einfacher Körperverletzung.

Der Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen an der Berliner Humboldt-Universität bezeichnete das Potsdamer Verfahren als typisch für derartige politische Delikte. »Mittels des völlig überzogenen Vorwurfs wird die dünn begründete Untersuchungshaft als eigentliche Bestrafung, noch vor dem Urteil, vollstreckt«, sagte einer von ihnen der Jungle World. Nach seiner Einschätzung versucht man, mit dem Fall »Matti« ein Exempel für die Zukunft zu statuieren. Und tatsächlich begründete selbst der Haftrichter die Verhängung der Untersuchungshaft nicht nur mit der Schwere der Tat, sondern auch mit der Notwendigkeit einer Generalprävention.

Auch wenn eine Verurteilung »Mattis« wegen versuchten Totschlags angesichts der sehr dürftigen Beweislage als unwahrscheinlich gilt, wird er vermutlich mehrere Monate in Untersuchungs­haft bleiben. Eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags brächte ihn für fünf Jahre ins Gefängnis. Beim Berliner Staatsschutz würden in diesem Fall wohl die Sektkorken knallen.