Der Weg zur Erlösung

Chávez und der Sozialismus von jörn schulz

Es gab schon immer Leute, denen ein schlichter Sozialismus nicht gut genug war. In der DDR legte man großen Wert darauf, dass der Sozialismus »real« war, Saddam Husseins So­zia­lismus sollte ein »arabischer« sein. Gemeinsam ist jenen, die ihrem Sozialismus eine besondere Eigenart zusprechen, dass sie nicht an den pedantischen marxistischen Maßstäben gemessen werden wollen, die in der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktionsmittel – und nicht in der Verstaatlichung – das entscheidende Kriterium sehen.

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez hat nun den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ausgerufen. Vielleicht weil Kim Jong-il, der »geliebte Führer« des nordkoreanischen Juche-Sozialismus (Sozialismus der Unabhängigkeit), sich schon zum »Leitstern des 21. Jahr­hunderts« hat ernennen lassen und Chávez meint, dass dieser Titel ihm gebührt, sprach er mit besonderem Pathos: »Vaterland, Sozialismus oder Tod – ich schwöre es.« Und zwar nicht nur einfach so, sondern: »Ich schwöre bei Christus, dem größten Sozialisten der Geschichte.« Schließlich geht es um den »Weg zur Erlösung unseres Volkes«. Wird Chávez Erfolg haben, wo Jesus scheiterte?

Verglichen mit dem Sozialismus des 19. und 20. sieht der des 21. Jahrhunderts recht kapitalistisch aus. Chávez kündigte in der vergangenen Woche an, Elekrizitäts- und Telekommunikationsunternehmen zu verstaat­lichen. Er wünscht eine stärkere staatliche Beteiligung an der Ausbeutung der Ölfelder im Orinocobecken, wo derzeit überwiegend transnationale Konzerne tätig sind.

In der BRD ging es bis Mitte der achtziger Jahre dirigistischer zu. Das Postmonopol schloss auch die Telekommunikation ein, selbstverständlich bezog man Strom von staatlichen Unternehmen. Auch die Ölpolitik ist nicht sonderlich radikal, in Saudi-Arabien sind sämtliche ausländischen Konzerne Lizenz­nehmer des Staatsunternehmens Aramco.

Die ökonomischen und sozialen Reformen, die Chávez durchgeführt hat und noch durchsetzen will, sind dringend notwendig und längst überfällig. Sie dienen jedoch allein der nachholenden kapitalistischen Entwicklung. Mit kranken und analphabetischen Arbeitskräften kann ein Land in der internationalen Konkurrenz nicht bestehen, und es wäre schlichte Dummheit, transnationalen Konzernen aus lauter Dankbarkeit dafür, dass sie Öl zu fördern geruhen, fast die gesamten Profite zu überlassen.

Von anderen Sozialreformern unterscheidet sich Chávez jedoch durch seine immer deutlicher hervortretenden autoritären Ambitionen. Seine »revolutionären Gesetze« will er in Zukunft per Dekret erlassen können, die Verfassung soll geändert werden, um ihm nach dem Jahr 2013 eine weitere Amtszeit zu ermöglichen. Weit eher als dem Typus des Revolutionärs entspricht der ehemalige Oberst der Fallschirmjäger dem des bonapartistischen Herrschers, der auftritt, wenn im Klassenkampf keine Seite eine Entscheidung erzwingen kann.

Die alte Oligarchie Venezuelas hat im Jahr 2002 bewiesen, dass sie nicht einmal mehr einen Putsch organisieren kann. Die sozialen Bewegungen sind nicht imstande, eine revolutionäre Entwicklung einzuleiten oder sich auch nur als unabhängige Gegenmacht zu organisieren. Chávez kann den Unmut kanalisieren und, gestützt auf seine Popularität, Maßnahmen durchsetzen, die die Bourgeoisie in ihrer ideologischen Verblendung ablehnt, obwohl sie für die Modernisierung des venezolanischen Kapitalismus unerlässlich sind. Die Lebensbedingungen der Venezolaner können sich dadurch verbessern. Doch es kann die Befreiung der Arbeiterklasse nicht das Werk von Obristen sein.