Ein anderer Protest ist nicht möglich

Warum die »Tagesschau« kein Agnoli-Seminar ist. Und warum es sich empfiehlt, sich an den G 8-Protesten solidarisch nicht zu beteiligen. von stephan weiland

Bis vor kurzem noch war die Antiglobalisierungsbewegung unter vielen intellektuell arrivierten Links­radikalen als Hort der anti­imperialistischen Reaktion verschrien. Anlässlich der Aufrufe zum Protest gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm aber tritt nun eine Strömung an, welche sich nicht der üblichen Phrasen vom »Bonzentreffen« (Anti-G 8-Bündnis) der »Führer der Welt« (Interventionistische Linke) bedient. Stattdessen wird der Kapitalismus unter Abgrenzung zu Attac und vergleichbaren Gruppen als Totalität, als eine alles umfassende Logik begriffen. Doch was ändert sich, wenn die Demonstranten nicht mit Palästinenser­tüchern daherkommen, sondern in modischen Carhartt-Klamotten?

Den herkömmlichen No-Globals fiel es nicht schwer, ihre Auf­rufe zu rechtfertigen, galten ihnen die G 8 doch als Schaltzentrale der Macht. Diese neue Strömung, die man »wertkritische Aktivisten« nennen könnte, hingegen steht vor einem Legitimationsproblem. Wenn sich der Kapitalismus nicht in Repression erschöpft, also nicht nur die Macht ist, die aus den Gewehrläufen kommt, sondern ein Verhältnis ist, das alle Bereiche der Gesellschaft konstituiert, verlieren die G 8 ihre Eigenschaft als Angriffsobjekt. Um dem sich aufdrängenden Verdacht von Beliebigkeit oder Mitmachertum entgegenzutreten, haben die »wertkritischen Aktivisten« einige Argumente entwickelt, die im Folgenden zu analysieren sind.

So sieht etwa die Antifajugend Frankfurt in der »Nutzung der großen medialen Aufmerksamkeit die Chance, linksradikale Kritik in einer breiten Öffentlichkeit wahrnehmbarer zu machen«. Diese Annahme unterstellt, dass die Massenmedien vielleicht keine unmittelbaren Bündnispartner sind, aber dennoch mehr oder minder bereitwillig als Multiplikatoren der linken Szene dienen können. Doch diese Hoffnung ist vergeblich. Die Dramaturgie solcher Großereignisse steht im Vorhinein fest. Und diese wird nicht von einer dunklen Verschwörung bestimmt, sondern durch die kulturindustriellen Skandalmechanismen, die nach Steine werfenden Vermummten verlangen, aber weder mit einem antinationalen Alltag noch mit fundierten Marx-Abhandlungen etwas anzufangen wissen. Der grundsätzlich vorgegebene Plot – hier die vermeintlichen Herrscher der Welt, dort die wahlweise als jugendlich-überschwänglich oder als anarchisch-brutal apostrophierten Protestierenden, und dazwischen die konstruktiv-pragmatische Zivilgesellschaft – wird auch durch den ausgeklügeltsten Aufruf und das elaborierteste Transparent nicht durchbrochen. Anders gesagt: Die Tagesschau ist kein Agnoli-Seminar.

Ein gemeinsames Papier der Gruppen TOP (Berlin), Redical M (Göttingen) und Antifa (F) (Frankfurt) liefert andere Gründe dafür, um nach Heiligendamm zu fahren. (Jungle World, 01/07) Zum Beispiel das Reflektionsargument: Gerade »weil die G 8-Gipfel als Form begriffen werden müssen, in der sich die kapitalistische Gesellschaft im Politischen reflektiert, rufen wir zum unversöhnlichen Akt der Negation auf«. Doch es liegt in der Logik der Sache, dass sich das Kapital auch auf der Kultusministerkonferenz oder der Gemeinderatssitzung in Castrop-Rauxel einer solchen Selbstbespiegelung unterzieht. Das durchaus berechtigte Plädoyer für eine Kritik der politischen Sphäre als notwendigem Gegenüber des blinden Marktes enthält also keine Begründung, wieso speziell die G 8-Gipfel gestört werden sollten.

Gehen wir weiter zum Paradoxon-Argument: »Gerade weil Herrschaft im Kapitalismus im Grunde weder Namen noch Adresse hat, sollte der G 8-Gipfel zum Anlass genommen werden, um mit der Kapitalismuskritik aufs Ganze zu gehen. Denn der ›richtige Ort‹ für antikapitalistischen Widerstand ist nie unmittelbar gegeben. Die ›Richtigkeit‹ bestimmt sich ausschließlich in dem Maße, in dem aus der Erfahrung gesellschaftlicher Widersprüche die Einsicht in die Notwendigkeit« der Revolution entstehe. Aus dem Paradoxon von abstrakter umfassender Kritik einerseits und notwendiger konkreter Praxis andererseits resultiert also die Vorgabe, dort einzugreifen, wo die Wahrnehmung von Widersprüchen den Wunsch hervorruft, alles Bestehende umzuwerfen.

Welche Widersprüche aber beim G 8 erfahrbar werden sollen, wird leider nicht ausgeführt. So kann man nur spekulieren: Ist der dem Volksmund bestens bekannte Widerspruch von oben und unten gemeint? Oder der in jeder Fernsehdokumentation über Afrika erkennbare Antagonismus von Metropole und Peripherie, zwischen universellem Glücksversprechen und massenhaftem Hungertod? Der Widerspruch zwischen der behaupteten Gewaltlosigkeit und der Realität brutaler Repression bis hin zur Tötung von Kritikerinnen und Kritikern?

Keiner dieser Widersprüche scheint bei den Aufrufen zum Protest in einer sonderlich emanzipatorischen Weise reflektiert zu werden, im Gegenteil. Nicht nur die NPD spricht vom »Gipfel der Bonzen« und dem »Zentrum des modernistischen völkerfeindlichen Imperialismus«. Das Alltagsbewusstsein der Durchschnitts­bürgerin begrüßt entweder im Boulevardstil den Gipfel als exklusives und glamouröses Ereignis oder verdammt ihn als zwielichtiges und volksfernes Treffen von korrupten und dekadenten Politikern.

Die G 8-Inszenierung unterbindet Erfahrung im emphatischen Sinne. Sie wird in eine Weltsicht eingepasst, die sich den Kapitalismus aus der bösen Absicht einer kleinen Clique erklärt: Die da oben machen ja eh, was sie wollen, weil sie – und nur sie – moralisch verdorben, profitgierig und kriegslüstern sind.

Ohne also auf vorrevolutionäre Widersprüche gestoßen zu sein, wenden wir uns dem Resonanzbodenargument zu: Das Bündnis sieht den G 8-Gipfel »als Möglichkeit, unsere Kritik am falschen Ganzen denjenigen nahe zu bringen, die für uns erreichbar sind. (…) Bei aller Kritik am Zustand der ›Bewegung‹ findet sich dort doch zumindest ein Resonanzboden für unsere Überzeugungen.«

Zugegeben: Neben etlichem Bekämpfenswertem, der Volkshuberei, dem Antisemitismus, dem biederen Reformismus wie der machistischen Randalegeilheit, wartet die »Bewegung der Bewegungen« im Gegensatz zur restlichen Gesellschaft immerhin noch mit dem Anspruch auf, sich mit dem gegenwärtigen Zustand der Welt nicht abzufinden und ihn zum Besseren ändern zu wollen.

An diesem Anspruch können die Bewegten gemessen werden. Und sie könnten zu einem Denken angeregt werden, das sie von ihren mitunter vereinfachenden und oft sogar brandgefährlichen Ideologien Abstand nehmen lässt. Dagegen lässt sich nichts einwenden. Nur eignet sich dieser Gedanke nicht als Argument fürs Mitmachen beim G 8-Spektakel. Ein Resonanzboden kann schließ­lich auch durch Negation zum Schwingen gebracht werden. Ein Akt innerlinker Konfrontation, sei er direkter oder indirekter Art, wie etwa ein gleichzeitiger alternativer Aufruf zu einer Fabrik- oder Bahnhofsbesetzung, würde ebenfalls Schwingungen hervorrufen, womöglich sogar stärkere als jene Schwingungen, die ein Haufen kritischer Vermummter in einem großen Haufen unkritischer Vermummter auszulösen vermag.

Eine Orientierung weg von Aufrufen zum Protest gegen spektakuläre Großereignisse wäre also vonnöten; ein Umdenken, das notwendig mit Ernüchterung einherginge. Anzuerkennen, dass man in naher Zukunft weder den G 8 noch irgendetwas sonst »wegpusten« (NoG 8-Gruppe Kiel) wird, ist deprimierend. Doch es ist unumgänglich, diese Ohnmacht einzugestehen, anstatt sie mittels einer fantasierten Allmacht zu verdrängen. Wer, wie es im bereits erwähnten gemeinsamen Papier aus Frankfurt, Berlin und Göttingen heißt, »zeitgemäß« agieren möchte, muss sich der Einsicht in die Niederlagen stellen, die in unserer Zeit des Fortschritts zu grenzenlosem Massenmord – zu Ausch­witz – fortgeschritten sind. Nur eine Bewegung, die die historischen Fehlschläge und Verluste zur Kenntnis nimmt, kann sich vor der Wiederholung des Immergleichen bewahren.

Eine kommunistische Bewegung unterscheidet sich darum von der Heiligendammer Revolutionssimulation. Statt eine verengte Sicht zu befördern, die Herrschaft nur an wenigen Pünktchen verortet, gälte es, eingedenk der Geschichte die Omnipräsenz des Kapitals im Alltag aufzuzeigen, um die dort bestehenden, derzeit kaum sichtbaren Widersprüche aufzugreifen und zuzuspitzen.

In diesem Sinne boten die studentischen Autobahnblockaden oder die Streiks bei Opel in Bochum und bei BSH in Berlin Anknüpfungspunkte. Dort gingen gesellschaftlich Handelnde – wenn auch zumeist bewusstlos oder von einem alternativen Nationalismus beseelt – über den ihnen zugestandenen Spielraum hinaus und wandten sich ohne Personalisierung offensiv gegen die ihren Bedürfnissen entgegenstehenden Verwertungsinteressen. Ähnliche Erscheinungen begrenzter Massenmilitanz, die nicht an die Formierung eines Lynchmobs erinnern, sind selten, zumal in Deutschland, wo dem Begriff »Generalstreik« der Klang eines Fremd­wortes anhaftet.

Solche abstrakte, nicht an einzelnen Charaktermasken ausgetragene Empörung wäre aufzugreifen, da nur jene Einsicht in die Herrschaft der Dinge über die Menschen gewinnen können, die nicht unmittelbar Menschen angreifen. So könnte ein Kommunismus ins Rollen kommen, der – gerade weil sein Blick nicht pseudorebellisch und voller heimlicher Faszination an »denen da oben« klebt – kein autoritärer Ruf nach Staat, Volk oder Macht ist und der sich stattdessen die vollständige Umwälzung aller Facetten des gegenwärtigen Lebens zur Aufgabe macht. Eine Umwälzung, die für jeden Lebensbereich ein unbändiges Glücksversprechen bereithält, das nur jenseits von Geschlechterbinarität, Zwangsfamilie, Lohnarbeit und nationaler Identifizierung realisiert werden kann. Wer in Heiligendamm die players fightet, spielt aber, ob gewollt oder nicht, das altbekannte game mit. Darum ist jede Beteiligung an den G 8-Protesten, ob von verkürzter oder verlängerter Kritik motiviert, abzulehnen.

Der Text basiert auf einem Flugblatt der »Gruppe 8. Mai« aus Frankfurt, an dem stephan weiland als Mitautor beteiligt war.