Das höllische Zucken

Ist Rockmusik langweilig? Die Band Hella beweist das Gegenteil. von markus ströhlein

Es gab eine Zeit, zu der freuten sich musikalisch interessierte Heranwachsende eher darüber, ein DJ-Set geschenkt zu bekommen als eine E-Gitarre. In den Jugendzentren setzten die Sozialarbeiter nicht länger nur den Kurs auf den Plan: »Wir gründen eine Rockband«. Um Jugendliche anzulocken, musste man anderes anbieten: rappen, mixen, scratchen! Unterhielt man sich über das bevorstehende Wochenende, wurde der Satz recht selten: »Ich sehe mir eine Band an.« Häufiger bekam man zu hören: »Ich gehe in einen Club. Dort legt ein guter DJ auf.«

Man muss sich nichts vormachen. Große Teile der neunziger Jahre waren für die Gitarrenmusik eine ziemlich bleierne Zeit. Bereits der große Zinnober um den Grunge am Beginn des Jahrzehnts entpuppte sich als ein Fest der Langeweile. Danach machten sich die Rockbands nicht einmal mehr die Mühe, sich den Anschein des Neuen zu geben. Man klaute bei Gruppen aus den siebziger Jahren und nannte die Ergebnisse dann Stoner-Rock oder Punk’n’Roll.

Dennoch war es keine Zeitverschwendung, sich in den Neunzigern Rockmusik anzuhören. Natürlich musste man den Spott der Freunde über sich ergehen lassen, die sich für besonders fortschrittlich in Sachen Musik hielten. Doch die aufregenden Stunden, die man mit Erzeugnissen von kleinen Labels wie Skin Graft, Touch and Go oder Amphetamine Reptile zubrachte, konnten einen durchaus entschädigen. Bands wie Dazzling Killmen, Zeni Geva, The Flying Luttenbachers, Don Caballero, Shellac, U.S. Maple, Today is the day, Melt Banana oder The Jesus Lizard benutzten Gitarre, Bass und Schlagzeug. Manche verlegten sich darauf, ihre Songs karg und minimalistisch zu halten. Andere schrieben irrwitzig komplexe Stücke. Einige griffen zu drastischeren musikalischen Mitteln, bedienten sich bei Grindcore oder Death Metal, ohne sich jedoch in dem Szenemief zu verlieren, den Hardcore, Punk, Metal und ihre Unterkategorien verströmten.

Im Jahr 1997 wurde das Label 5 Rue Christine in Olympia im US-Bundesstaat Washington gegründet. Was verbindet 5 RC mit den bereits genannten Plattenfirmen? Nun ja, es dürfte lediglich das Verlangen sein, auf keinen Fall langweiligen Retro-Rock zu veröffentlichen: »Wir bringen Tonträger von Leuten heraus, die faszinierende und herausfordernde Musik machen. Sie mag dem Hörer mehr abverlangen als andere. Aber sie belohnt denjenigen, der sich auf sie einlässt. Wir wollen Musik, die in die Zukunft weist, nicht in die Vergangenheit.«

Dieses Versprechen haben die Macher von 5 RC stets eingehalten. Die Bands XiuXiu und Deerhoof, die sich beide des Pop annehmen und ihn in seine Einzelteile zerlegen, haben auf dem Label Platten veröffentlicht. The Advantage spielten mit Gitarre, Bass und Schlagzeug Melodien nach, die in den Spielen der Nintendo-Playstation vorkommen. The Get Hustle vermischen auf recht eigenartige Weise Jazz und Postpunk.

Die Band Hella hat im Jahr 2002 ihr erstes Album auf 5 RC herausgebracht. Bis vor kurzem konnte man allerdings kaum von einer Band sprechen. Hella bestand bis zum vergangenen Jahr nur aus dem Schlagzeuger Zach Hill und dem Gitarristen Spencer Seim. Als Duo Musik zu machen, hatten die beiden zwar nicht zum Grundsatz erhoben. Aber Hill und Seim spielen zusammen, seit sie angefangen haben zu musizieren. Dass sie Virtuosen seien, weisen Hill und Seim von sich. Deshalb muss man es wohl so sagen: Sie haben sich über die Jahre hinweg ein derart eigentümliches Zusammenspiel angeeignet, dass Außenstehende zwar staunen, aber keinesfalls ohne weiteres als Mitmusiker einsteigen konnten.

Die DVD »Concentration Face/Homeboy« von 2005 zeigt das recht anschaulich. Hill und Seim haben eine Tour durch Japan mitgeschnitten. Neben den Aufnahmen von bizarren Vorbands, von Fahrten in futuristischen, japanischen Hochgeschwindigkeitszügen und von Begebenheiten, die recht groß gewachsenen US-Amerikanern in dem fernöstlichen Land anscheinend zwangsläufig passieren, kann man auf der DVD vor allem eines sehen: Hella live. Die Gitarre flirrt, das Schlagzeug verfällt in ein unaufhörliches Prasseln, und das Publikum zuckt und zappelt.

Dass Hella etwas Besonderes sind, hat sich inzwischen herumgesprochen. Zach Hill wurde als Studiomusiker für ein Projekt des Sängers der Mainstream-Kapelle The Deftones angeheuert und hat auf weiteren Veröffentlichungen kommerziell erfolgreicher Bands die Drums eingespielt. Ein großer Schlagzeughersteller hat das Sponsoring für Hill übernommen. Und einige Majorlabels hätten Hella gern unter Vertrag genommen.

Die neue Platte »There’s no 666 in Outer Space« erscheint nun aber bei Ipecac Records. Mike Patton, der Gründer der Firma, hat in den neunziger Jahren mit Faith No More Millionen verdient und gibt sein Geld jetzt dafür aus, außergewöhnliche Bands auf dem Label zu versammeln. Hella ist dort recht gut aufgehoben.

Hill und Seim haben für die neue Platte das schier Unmögliche geschafft. Sie haben Mitmusiker gefunden. Mit dem zweiten Gitarristen Josh Hill und dem Bassisten Carson McWhirter haben sie bereits vorher in einer Band gespielt. Nur der Sänger Aaron Ross kam neu hinzu.

Nach wie vor verlangen Hella dem Hörer so manches ab. Denn das, was das Quintett sich ausgedacht hat, verbindet es mit einigen Bands der neunziger Jahre wie Dazzling Killmen oder Don Caballero. Hellas Musik ist recht komplex. Da überlagert ein Rhythmus den anderen. Und mit den neuerdings vier Instrumenten eröffnen sich in dieser Hinsicht noch viel mehr Möglichkeiten als mit den bisherigen zwei. Mit dem nervtötenden Hang von Jazzrock-Bands oder Progressive-Metal-Kapellen, unablässig das handwerkliche Geschick zu demonstrieren, haben Hella aber nichts am Hut. Eher liefert das, was die Musiker zustandebringen, dem Hörer eine musikästhetische Rundumversorgung: Man kann konzentriert zuhören. Oder man kann zappeln und zucken.

Dass sich die Musik im Kopf festsetzt, ist auch ein Verdienst des Sängers Aaron Ross. Er bringt es nämlich fertig, bei all dem Tohuwabohu aus Rhythmen, Breaks und Taktverschiebungen Melodien zu singen, manchmal süße, manchmal melancholische, und immer sehr poppige. Avantgarde zum Mitsingen, geht das? Ja, es geht.

Über welche Themen Ross singt, bleibt indes unklar. Der Gesang ist unaufdringlich in den Gesamtklang gemischt. Nach den Songtiteln zu urteilen, haben Hella aber keinesfalls den Sinn für Humor verloren. Auf den früheren Platten hatten die Stücke Namen wie »We was just boys, living in a dead ass german shepard« oder »Earth’s first evening Jimi Hendrix-less and pissed«. Das neue Album liefert mit den Stücken »The ungrateful dead« und »Anarchists just wanna have fun« ironische Anspielungen auf die Rockgroßväter Grate­ful Dead und Cindy Laupers Popsong »Girls just wanna have fun«. Und der Plattentitel mag kryptisch sein. Aber er ist so absurd, dass man auf jeden Fall ein wenig kichern muss.

Und natürlich sind solche Song- und Albumtitel auch immer ein Hinweis auf das Verhältnis von Wort und Musik. Während andere Bands in ihren Texten die Welt erklären wollen, führen Hella diese Idee ad absurdum. Die musikalische Form ist alles, der Inhalt nichts.

Sollte sich darüber hinaus noch jemand fragen, was der Bandname bedeutet: »Hella« ist ein Slangwort und heißt so viel wie »höllisch«. Der Name passt.

Hella: There’s no 666 in Outer Space (Ipecac)