»Die Justiz kann nicht symbolisch benutzt werden«

Giorgio Bocca

Mehr als 60 Jahre nach einem der schlimmsten Massaker von SS-Soldaten in Italien hat ein Gericht zehn ehemalige deutsche Offiziere zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. In Italien betrachten viele dieses Urteil als historische Wiedergutmachung. Aber nicht alle freuen sich darüber.

Giorgio Bocca ist ein ehemaliger Partisanenführer der Gruppe »Giustizia e Libertá« im Piemont und heute Kolumnist des Wochenblatts L’Es­presso. Über den Symbolwert der Justiz und den Umgang mit dem antifaschistischen Befreiungskampf in Italien sprach mit ihm Federica Matteoni.

Was denken Sie über das Urteil gegen die zehn ehemaligen Offiziere der Waffen-SS, die 1944 in Marzabotto mehr als 800 Menschen töteten?

Von diesem Urteil halte ich nicht viel. In den vergangenen Tagen wurde über seinen Symbolwert geschrieben. Die Justiz kann jedoch nicht symbolisch benutzt werden. Für eine Sühne ist es heute zu spät. Keiner dieser ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS riskiert auch nur einen Tag Gefängnis. Sie sind in Abwesenheit verurteilt worden und wegen ihres Alters haftunfähig. Nur der Offizier, der das Massaker angeordnet hatte, wurde bereits 1951 zu lebenslanger Haft verurteilt. Er wurde 1985 begnadigt. Die anderen konnten einfach ganz normal in Deutschland weiter leben. Das finde ich symbolisch.

In italienischen Zeitungen konnte man lesen, dieses Urteil stelle einen späten »Sieg« für die Werte des antifaschistischen Widerstands dar.

Prozesse sind nicht dazu da, Werte zu behaupten. Der antifaschistische Widerstand hat bereits gewonnen, und zwar am 25. April 1945, als Italien offiziell befreit wurde und als wir Partisanen aus den Bergen in unsere Städte zurückkamen. Wir machten uns damals keine Gedanken über Prozesse gegen die Faschisten. Wir dachten nur: Es ist vorbei, jetzt muss etwas Neues entstehen.

Damit will ich nicht sagen, dass Antifaschismus und Resistenza nicht verteidigt werden müssen. Ganz im Gegenteil: In Italien wird derzeit heftig über den Umgang mit dieser Geschichte diskutiert. Es handelt sich um eine gefährliche Welle der Relativierung.

Sie beziehen sich auf die Debatten, die nach der Hinrichtung von Saddam Hussein in den Medien geführt wurden?

Alle Medien, von den konservativen über die linksliberalen bis zu denen, die als »linksradikal« bezeichnet werden, verurteilten die Hinrichtung des irakischen Diktators. Von mehreren Seiten wurde der Begriff »Siegerjustiz« benutzt, und sofort waren die Vergleiche mit dem Nürnberger Prozess und der Hinrichtung von Benito Mussolini da. In der Tageszeitung il manifesto wurde die Hinrichtung von Mussolini durch die Partisanen sogar als »verachtenswert« bezeichnet. Der Unterschied zur – meiner Ansicht nach komplett sinnlosen – Hinrichtung von Saddam Hussein war, dass Mussolini nie im Gefängnis saß, sondern bei einem Fluchtversuch gefangen genommen wurde.

Auf die Kritik der italienischen Regierung antwortete der irakische Ministerpräsident: »Ihr Italiener solltet lieber schweigen, Mussolini wurde nur eine Stunde lang der Prozess gemacht.« Und wie lange hätte er dauern sollen? Hätte man versuchen sollen, Beweise für seine Verbrechen zu suchen? Seine Hinrichtung war ein Akt des Kriegs, und sie war richtig. Stellen Sie sich mal vor, Mussolini würde noch leben, das ist doch völlig absurd! Ich sehe wirklich keinen Grund, darüber zu diskutieren. Die Debatte ist ideologisch. Es wird versucht, die Resistenza als kommunistischen Mythos darzustellen.

Die rechten Parteien haben schon immer versucht, die antifaschistische Dimension der Resistenza in Frage zu stellen. Was ist neu an der aktuellen Debatte?

Neu ist, dass diese Relativierung nicht mehr nur von rechts kommt. Im Oktober ist ein Buch herausgekommen, über das ich mich sehr geärgert habe. Es heißt »Die große Lüge« und wurde von Giampaolo Pansa geschrieben, einem angesehenen linken Intellektuellen. Wir schreiben beide für die Wochenzeitschrift L’Espresso. In seinem Buch stellt Pansa eine ganz einfache, aber meiner Ansicht nach skandalöse These auf: Nach der Befreiung seien die kommunistischen Partisanengruppierungen mit brutaler Gewalt nicht nur gegen Faschisten und Kollaborateure vorgegangen. Viele Menschen seien einfach auch aus ganz persönlichen Rachemotiven umgebracht worden. Viele andere, weil sie der Durchsetzung einer »kommunistischen Diktatur« im Wege gestanden hätten. Pansa behauptet nämlich, dass das einzige Ziel des Partisanenkriegs die kommunistische Machtergreifung war. Die antifaschistische Natur des Befreiungskriegs, worauf sich die italienische Republik gründet, wird nicht nur in Frage gestellt, sondern schlicht geleugnet. Die Darstellung des Befreiungskriegs als Versuch, die Macht zu ergreifen, ist pure Ideologie, mit Geschichte hat das nichts zu tun.

Sind diese »dunklen Seiten« des Partisanenkriegs schlicht erfunden worden, nur um einen vermeintlichen Mythos zu brechen?

Es ist bekannt, dass die Partisanen nach der Befreiung, also nach dem offiziellen Kriegsende, viele Menschen getötet haben. Historiker sprechen von 10 000 bis 20 000 Toten. Sicher gab es viele Rachemorde, aber kann man Men­schen, die vom Faschismus verfolgt oder deren Familien deportiert und vernichtet wurden, nur deshalb als »Rachsüchtige« verurteilen, weil sie Vertreter des Regimes ihrer Verfolger umbrachten? In den Tagen nach dem 25. April gingen die Partisanen wenig zimperlich mit ihren Feinden um. Morde und Vergeltungsaktionen, die nichts mit Politik zu tun hatten, gab es auch, sie von den »richtigen« Morden zu unterscheiden, ist heute jedoch unmöglich. Jeder Versuch, an diesem Punkt »die Wahrheit« zu enthüllen, ist ideologisch und deshalb abzulehnen.

Hätten die Kommunisten nach Kriegsende selbst über einige Aspekte des Widerstands kritisch nachdenken sollen?

Das Sinnieren darüber, ob die Partisanen auch unschuldiges Blut fließen ließen, hätte eine Gefahr mit sich gebracht, die meiner Ansicht nach größer ist als alle Vorteile, die aus der Selbstkritik hätten entstehen können: die Schaffung eines Opfermythos. So nach dem Motto: Die Partisanen waren genauso brutal wie die Faschisten, und diese hatten schließlich ihr gutes Recht, Faschisten zu sein. Man war eben unterschiedlicher Meinung. Der Antifaschismus ist eine der Grundlagen unserer Demokratie, das steht in unserer Verfassung, das als »Mythos« zu bezeichnen, ist eine Bedrohung für unsere Demokratie.

Der Umgang mit dem Widerstand hat sich in den vergangenen Jahren in Italien geändert. Hat sich während der Regierungszeit von Silvio Berlusconi ein rechter Diskurs durchgesetzt?

Es ist nicht alles unter der Regierungszeit von Berlusconi passiert. Die »Demokratisierung« der Partei der Postfaschisten fand bereits 1995 statt. Seitdem arbeitete ihr Vorsitzender, Gianfranco Fini, unermüdlich an einem sauberen Image. Berlusconi hat die Ex- und Postfaschisten nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich und kulturell legitimiert. Seinen Aufstieg verdankt er der Angst vor »den Kommunisten«, die er verbreitet hat. Die Delegitimierung der Resistenza dient seinem politischen Projekt.

Aber jetzt haben »die Kommunisten« angeblich wieder die Macht ergriffen …

An dem Diskurs wird sich aber wenig ändern. Die italienische Regierungslinke hat sich unter vielen Aspekten extrem »berlusconisiert«. Wie wäre es sonst möglich, dass linke Intellektuelle Bücher schreiben, die auf Webseiten der Neofaschisten gelobt werden?