»Man sagt Holocaust und meint Geld«

Nach dem Streit um die Rückgabe von Ernst Ludwig Kirchners »Berliner Straßenszenen« an die jüdischen Erben geht die Restitutionsdebatte weiter. von stefan weigand

Gigantomanie war ein Charakteristikum des Nationalsozialismus. Hitler begann nicht nur den größten Krieg aller Zeiten, sondern wollte auch die größte Kunstsammlung der Geschichte zusammentragen. Diesem Zweck sollte das geplante »Führermuseum« in Linz dienen. Für dieses Projekt ließ Hitler Kunstschätze aus ganz Europa beschlagnahmen, darunter auch das naturalistische Gemälde »Die Pest in Florenz« von Hans Makart. Mussolini, der um Hitlers Faible für jenes Gemälde wusste, ließ das Bild kurzerhand mitsamt der Villa der jüdischen Familie Lan­dau beschlagnahmen, um es dem »Führer« als Ge­schenk darzubieten. Heute hängt das Werk ohne Hinweis auf seine Herkunft in der Neuen Pinakothek München.

Die Initiative Mussolinis macht den Werdegang der »Pest in Florenz« zum Sonderfall. In der Regel wurde der massenhafte Raub von Kul­tur­gütern direkt von mehreren, eigens auf die Fahn­dung nach Kunst, Büchern und Archivalien spezialisierten Institutionen des Nazi-Staats ausgeführt. Vor allem Juden und Kommunisten waren vom ideologisch motivierten Kunstraub betroffen.

Obwohl die Alliierten nach 1945 Kulturgüter restituierten, blieben große Teile der Beute verschollen oder in deutschem Besitz. Die Bundesregierung glaubte lange Zeit, mit einem Fonds von 1,5 Mil­liar­den DM in den fünfziger Jahren ihrer Entschä­di­gungs­pflicht Genüge getan zu haben. 1965 erschien der Katalog der verlorenen und verschollenen Gemälde deutscher Museen, während die Forschung über die Herkunft des Museumsbestands, zu dem eben auch die »arisierte« Kunst gehört, erst nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus zögerlich in Angriff genommen wurde. Die auf Druck der USA einberufene Washingtoner Konferenz ver­abschiedete 1998 eine Erklärung, die die Rück­gabe von Raubkunst erleichtern soll. Eine Datenbank wurde eingerichtet, außerdem sollte die Beweislast bei den Museen liegen. Sie müssen nun bei allen Gemälden, die zwischen 1933 und 1945 erworben wurden, die Rechtmäßigkeit des Besitzes nachweisen.

Seit einigen Monaten werden die Washingtoner Prinzipien in Frage gestellt. Die Diskussion entzündete sich an einigen spektakulären Auktionen restituierter Kunstwerke. Im Zentrum der Debatte steht Ernst-Ludwig Kirchners Bild »Berliner Stra­ßenszene«, das vom Berliner Kultursenator Thomas Flierl an die Erbin des einstigen jüdischen Schuhfabrikanten und Kunstsammlers Alfred Hess rückübertragen und kurz darauf für den Rekordpreis von 30 Millionen Euro versteigert wurde.

Der Verkauf der »Straßenszene« löste einen Auf­ruhr im hiesigen Kunstmilieu und Feuilleton aus. Senator Flierl wurde »Dilettantismus« vorgeworfen, sein Amtsvorgänger Christoph Stölzl sprach von »dürftiger Beweislage«, der Freundeskreis des Brücke-Museums Berlin stellte Anzeige wegen Veruntreuung von Staatsvermögen. Die Kritiker bezweifelten, dass die Witwe von Hess das Bild 1936 unter Druck an den Kunstsammler und Indus­triellen Carl Hagemann, der auch im Vorstand der IG Farben saß, hatte verkaufen müssen. Sowohl der Preis als auch die Freundschaft zwischen Kirchner und Hagemann sprächen dagegen, dass es sich um einen Notverkauf gehandelt habe. Flierl verteidigte die Rückgabe und erinnerte an die Washingtoner Vereinbarungen, wonach Berlin den Beweis hätte erbringen müssen, dass die ins Exil geflohene Witwe den Verkauf auch ohne die Bedrohung durch die NS-Herrschaft getätigt hätte.

Ausgehend von dem konkreten Fall wurde ein Horrorszenario entworfen, ein »Ausverkauf musealer Meisterwerke« (Spiegel) sei zu befürchten. Die angeblich von internationalen Auktionshäusern, gierigen Privat­sammlern und großen amerikanischen Museen ausgehende Gefahr sollte durch protek­tionistische Maßnahmen eingedämmt werden. Vorgeschlagen wurde die Definition von nationalem Kulturgut, für das ein Exportverbot zu verhängen sei, sowie eine Hal­te­frist, die Sofortverkäufe restituierter Kunst­objekte untersagt.

Aufgeschreckt von der Empörung der Kunstwelt, berief Kulturstaatsminister Bernd Neumann bereits zwei Wochen nach dem Verkauf der »Straßenszene« eine Krisensitzung mit Vertretern des Bundes und der Mu­seen ein. In Abwesenheit der Opferverbände bekräftigte Neumann, die Regierung stehe »uneingeschränkt« zu den Standards von Washington. Allerdings seien die staatlichen Richtlinien für die Restitutionspraxis »im Hinblick auf ihre friedensstiftende Wirkung und auf ihre Praktikabilität« zu überprüfen. Zudem solle die deutsche Herkunftsforschung gestärkt werden, die Rückgabeverfahren sollten zukünftig transparenter und koordinierter ablaufen.

Trotz dieser politischen Intervention Neumanns, die ungeachtet ihrer Tendenz zur Einschränkung der Opferrechte weitgehend als gerechter, friedensstiftender Akt wahrgenommen wurde, ist kein Ende der Restitutionsdebatte abzusehen. Bereits im Oktober hat Martin Roth, Direktor der Staat­lichen Kunstsammlungen Dresden, vor »geschäftstüchtigen Anwälten (…) großer Kanzleien in New York«, die nach »strittigen Kunstwerken fahnden«, gewarnt und gemahnt: »Da geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um den eigenen Profit.«

Im Januar druckte die FAZ eine Rede, die Bernd Schultz, Chef des Auktions­hauses Villa Grisebach, im Kanzleramt gehalten hat­te. Bereits die Überschrift »Man sagt Holocaust und meint Geld« bedient Ele­men­te des Antisemitismus. Kontrastierend beschwört Schultz zu Beginn der Rede den kulturellen »Wiederaufbau aus dem Nichts« nach 1945, den er zum antifaschistischen Gemeinschafts­projekt im Zeichen einer »großen historischen Wiedergutmachung« umlügt.

Die scheinbare Empathie für die vom NS verfolgten Künstler liefert dem Auktionator jedoch nur die moralische Munition, um sich über »skrupellose, ausgebuffte Res­titutions­anwälte« und das New Yorker »Shoa-Business« zu beschweren. Die »schamlose« Instrumentalisierung des »historischen Verantwortungsgefühls« der BRD zielt nach Schultz allein auf »die Öffnung aller deutschen Museen als Nachschub für den internationalen Kunstmarkt« und damit auf die »Identität unserer Kultur«. Dass Schultz zwölf Monate zuvor den Rekordumsatz seines Hauses mit dem Satz »Der Markt hat immer recht« auftrumpfend kommentierte, macht die Attacke umso befremdlicher.

In der Raubkunst-Diskussion werden eben wesentliche Elemente des nationalen Selbstverständnisses mitverhandelt. Schultz, Roth und anderen eignet eine spezifisch deutsche Mentalität, die sich in Zeiten der Hochkonjunktur gänzlich kapitalistischen Prinzipien verpflichtet zeigt, sich in der Krise jedoch unter larmoyanter Berufung auf eigenes Leid, auf die Moral und die Kultur an den Staat wendet, welcher die ausländische Konkurrenz aus dem Weg räumen soll. Der Rückgriff auf antisemitische Codes und Stereo­type geschieht dabei unbewusst, aber mit System.