SOS Info

Der neue Berliner Hauptbahnhof soll offenbar gesprengt werden.

Die Brache, in deren Mitte sich der bedrohlich verformte Klotz befindet, der den neuen Hauptbahnhof darstellen soll, ist mit Trümmern und Scherben übersät. Teile des Geländes sind weiträumig abgesperrt, eine seitlich vorbeiführende Straße flüchtet sich in einen Tunnel. Polizisten patrouillieren, die Bundeswehr hält sich für den Fall der Fälle bereit. Allenthalben ertönen schrill und laut Sirenen. Bedienstete von Sicherheitsfirmen kontrollieren, ob die Reisenden vorschriftsgemäß Schutzhelme und Schuhe mit Stahlkappen tragen. Langzeitarbeitslose stehen auf Hebebühnen und stützen rund um die Uhr die instabilsten Teile des Gebäudes.

Wer sich dem Eingang der Bauruine nähert, geht leicht geduckt und hält die Hände schützend über den Kopf. »Von wegen, alles Gute kommt von oben«, raunt uns ein Mann verstohlen zu und hastet weiter. Vorsichtig schielen die Menschen seitwärts in die Höhe, Panik steht in ihren Augen. Denn nach dem Orkan »Kyrill« droht die nächste Gefahr: Schnee liegt pfundweise auf dem Dach des Skandalbahnhofs. Wie lange wird es noch halten?

Zwar wurden die abgefallenen und die losen Stahlträger an der Fassade des klapprigen Bahnhofs inzwischen notdürftig angeschweißt. Doch Experten wissen: »Berliner Bahnhof ist zu weich.« (FAZ) Der Wind sei nur der Auslöser für die »Verformungen« gewesen, die »den oberen Teil des Baus aus seiner Normalposition« drückten. Die »zerstörerischen Bewegungen«, welche die Stahlträger zum Absturz brachten, seien »aus dem Gebäude selbst gekommen«. Bei Lebewesen würde man von einer schwerwiegenden Autoimmunkrankheit sprechen.

Noch hält Bahnchef Hartmut Mehdorn (64) die bittere Wahrheit zurück, vielleicht gibt er sich der Illusion hin, das Unglücksbauwerk retten zu können. Doch die Agonie hat bereits eingesetzt. Der modernste Bahnhof der Welt zerstört sich selbst.

Längst bietet das wacklige Gebäude keinen Schutz mehr, ein eisiger Wind weht hindurch und treibt herrenlose Plastiktüten vor sich her. Aus den gelben, roten, grünen und blauen Mülleimern quillt der Unrat, Zigarettenkippen bedecken den Boden des früheren Nichtraucherbahnhofs. Ein Bild des Verfalls. Die Benutzung der Latrinen kostet zwar noch 80 Cent, aber sie stinken zum Himmel. Weißlicher Schaum steht in den Toilettenschüsseln, das Klopapier ist rationiert. Eine Lache im Gleisbett zeugt von einsickerndem Wasser. World’s End.

Das düstere Bild ist außerdem geprägt von den unzähligen und endlosen Absperrbändern vor Aufzügen, Treppen, Ein- und Ausgängen, Fahrkartenschaltern und allen möglichen Winkeln des Gebäudes, in denen die Einsturzgefahr offenbar noch akuter ist als in den anderen. Überall sieht man Alarm­knöpfe, allenthalben leuchtet es rot und weiß wie in einem Fieberwahn, wie in einem Alptraum, der kein Ende findet. Sicherheitsdurchsagen, Notrufe, hier kommt kein Zug mehr. Und wenn doch einer kommt, dann ist er maßlos verspätet.

Menschen irren die Rolltreppen hoch und runter durch das Milliardengrab. »Geht es hier zu Gleis 14?« Niemand weiß das. Vielleicht gibt es das Gleis 14 schon nicht mehr. Es herrscht eine Stimmung wie in den Kriegswirren. Liebespaare verlieren sich im OG 1 und finden sich im UG 2 wieder. »Ich suche meine Tochter, wo ist Gleis 7?« Der Aufzug spricht wirres Zeug. »Sie befinden sich auf OG 1. Auf OG 2 haben Sie Anschluss an Z 93 bis K 15.« Ein Zischen, die Funken sprühen, Kurzschluss.

Wenn man sich in Mehdorns Endzeitdiktatur eine Weile von der Odyssee des Grauens erholen will, ist das auch kein Zuckerschlecken. Im Café des verruchten Bahnhofs kostet der angebliche »Cappucchino« 2,50 Euro, lauwarm und ohne Keks. Der Kakao erinnert an Eisenhüttenstadt 1981 und ist pappsüß. Im Kiosk gibt es nur schlechte Bücher zu erwerben: Schröders Memoiren zum Beispiel. Und die Beschäftigten in den trist und apokalyptisch wirkenden Läden wissen: Sie dürfen den Todesbahnhof erst als letzte verlassen.

Und dann der Fund, der die Gewissheit bringt: An einem Pfeiler im Untergeschoss ist in Kopfhöhe eine Bombe angebracht worden. Offensichtlich wird hier bereits die Sprengung vorbereitet. Wird man die Menschen vorher evakuieren? Oder opfert man sie dem Bahn-Wahn? Nichts ist mehr sicher, die Welt ist aus den Fugen geraten.

Der Übeltäter, dem die Menschheit all diese unbeschreiblichen Gräuel zu verdanken hat, lässt sich nicht blicken, weder an den verlassenen Informationsschaltern noch in den SOS-Räumen. Gerüchte kursieren, Mehdorn habe sich in einem der Untergeschosse eine Vergnügungslounge einrichten lassen und werde dort zusammen mit Peter Hartz von leichten Damen mit Champagner bewirtet und von hinten bis vorne verwöhnt. Das Großaufgebot an Bundeswehrsoldaten, das dort aufmarschiert ist, könnte ein Hinweis darauf sein. Hier soll offenbar niemand herumspionieren. Befindet sich unter dem Terrorbahnhof gar ein geheimes Tunnelsystem, durch das Mehdorn nach der Sprengung nach Argentinien oder Paraguay flüchten will? Die Wahrheit wird der einfache Bahnkunde wohl nie erfahren.

Letztlich ist den Menschen Mehdorns Unmoral auch egal. Jeder ist froh, wenn er nur mit dem Leben davonkommt. Die Letzten beißen die Hunde. Rette sich, wer kann! Morituri te salutant!