Die Armen von Zion

Abraham und Isaak irren obdachlos durchs Heilige Land. adi nes konfrontiert biblische Motive mit der sozialen Realität in Israel.

Adi Nes, der berühmteste zeitgenössische Fotokünstler Israels, ist aus seinem Themenkreis »Homoerotik in der israelischen Armee« desertiert. Die Bilder von dahinschmelzenden Knaben in Zahal-Uniform haben ihm zwar zum internationalen Durchbruch verholfen, aber nun ist der 41jährige in einem Alter, in dem der israelische Mann in der Regel weder Wehrdienst noch seinen jährlichen Reservedienst ableisten muss. Und so lässt Adi Nes seine visuelle Identitätsphilosophie über Coming-out und Kriegsproblematik hinter sich und widmet sich einem weniger spektakulären, aber im israelischen Alltag allgegenwärtigen Phänomen: Israel ist arm dran. In seiner aktuellen Fotoserie zeigt er die Giganten der Bibel als hungernde Migranten und Obdachlose. Das Land hat seine hehren zionistisch-egalitären Ideale verabschiedet. Hier zeigt sich das eigentliche Problem der israelischen Gesellschaft. Einerseits steigt die Zahl der Superreichen in Villenorten am Meer wie Herzlia, andererseits verarmt die Bevölkerung immer mehr. Eine offizielle Statistik des National Insurance Institute of Israel aus dem Jahr 2006 offenbart die traurigen Verhältnisse. Obwohl Israel in den vergangenen Jahren insgesamt reicher geworden ist, hat es die höchste Armutsquote der westlichen Welt, und jedes Jahr rutschen mehr Familien ins Elend ab. Als arm gilt danach eine vierköpfige Familie, die monatlich weniger als 767 Euro zur Verfügung hat. Die verheerende wirtschaftliche Situation in den palästinensischen Gebieten ist in dieser Statistik nicht einmal einbezogen. In einem Land mit einer Gesamtbevölkerung von 6,5 Millionen leben 1,32 Millionen Menschen, davon 618 000 Kinder, in Armut.

Der Künstler Adi Nes sagt zu seiner Neuinterpretation der biblischen Geschichten: »In meiner Bildreihe widme ich mich den Menschen, deren Identität von der Gesellschaft ausgelöscht wird.« Dabei lässt er nichts un­angetastet. Noah, dargestellt von einem Schauspieler, liegt enblößt und verdreckt in einem heruntergekommen Eingang einer bekannten Videothek Tel Avivs. Zwei Bilder der insgesamt 14 Werke umfassenden Serie »Geschichten der Bibel 2002-2006« zeigen Ruth und Naomi. Ruth ist die berühmteste Konvertitin zum Judentum, die gegenüber Naomi den Schwur leistet: »Wo du hingehst, will auch ich hingehen. Und wo du bleibst, will auch ich bleiben. Dein Volk ist mein Volk.« Nes zeigt die beiden Frauen, die gemeinsam den Ur-Großvater von König David großzogen und dafür traditionell in Ehren gehalten werden, als zwei verelendete Migrantinnen, die ihr Essen im Müll zusammensuchen müssen.

Urvater Abraham opfert seinen Sohn auf dem Altar der Armut. Der Altar ist ein Einkaufswagen, in dem Abraham Pfandflaschen sammelt. Der erschöpfte barfüßige Sohn liegt darauf gebettet. »Mich hat die sehr berühmte Plastik Supermarket Shopper des amerikanischen Künstlers Duane Hanson inspiriert«, sagt Nes über sein Bild. »Hier sehen wir einen Mann, der Recycling-Flaschen sammelt. Ich dachte an das Recyclen von Mythen. Ich kenne so viele Leute, die ihre Jungs einer Armee opfern, die für ein Land, für Ideale kämpfen, die schon gar nicht mehr exsistieren.« Und das Land antwortet auf das Statement von Adi Nes auf seine Art und nahm in seinen nationalen Kunsttempel, dem Israel Museum in Jerusalem, vier Bilder der Serie auf, die auf dem internationalen Kunstmarkt inzwischen fünfstellige Summen erbringen.

natascha berg