J. R. im Tunnel

Er tauchte in die Popszene der Achtziger ein und bald darauf ab. Jetzt sind seine Romane bei Suhrkamp erschienen. Eine Begegnung mit Wolfgang Welt, der dem Wahnsinnigwerden ein literarisches Denkmal gesetzt hat. von jan süselbeck

Er saß drei Stunden im Zug fest, kurz vor Bonn. Ein so genannter Personenschaden. Würde die Marburger Lesung mit Wolfgang Welt überhaupt noch stattfinden können? Die Organisatoren hockten bei Bier und Pommes in der »Waggonhalle«, dem Veranstaltungsort in der Nähe des provinziellen Bahnhofs, und warteten auf seinen Anruf. »Liebe Fahrgäste, bitte packen Sie jetzt Ihre Sachen zusammen und verlassen Sie geordnet den Wagen« – das war so ziemlich das Letzte, was ich beim Telefonieren aus dem Hintergrund in dem ICE-Wagen, in dem Welt saß, mitbekommen hatte: eine Durchsage zur Eva­kuierung des Zugs. Welt hatte von dem Mobil­telefon seiner Sitznachbarin aus angerufen und mitgeteilt, dass er überhaupt nicht wisse, was nun weiter passieren würde. Er werde sich noch einmal melden, wenn er an irgendeinem Bahnhof an­käme.

Irgendwie war diese grausame Selbst­mörder-Panne bei der Bundesbahn genauso bizarr wie viele der lakonisch beschriebenen Alltagsszenen, die ­Wolf­gang Welts drei Romane »Peggy Sue« (1986), »Der Tick« (2001) und »Der Tun­nel am Ende des Lichts« (2006) bestimmen. Welt, 1952 in Bochum geboren, hat studiert und abgebrochen, eine Szenekarriere angefangen, die mit einem Absturz und einem längeren Psychiatrieaufenthalt endet. Dann schreibt er in großen Abständen drei Romane. Die atemlos geschriebenen Texte lassen sich nun erstmals zusammen in einer Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlags nachlesen – dem Stil nach irgendwo zwischen Charles Bukowski und Rainald Goetz zu verorten, aber dann doch ganz anders und ziemlich eigen. Eine Lektüre, die einem lange nachgeht, obwohl man sich vorher oft fragt, warum man das alles überhaupt liest. Aufhören kann man trotzdem nicht mehr, wenn man einmal angefangen hat.

»Er erzählt mir, ob ich’s wissen will oder nicht, alles, was er in einem gegebenen Zeitraum (…) in seinem Ruhrgebietsleben (…) erlebt hat«, verriss Diedrich Diederichsen Welts Erstling »Peggy Sue« 1986 in der Spex, nachdem der heute fast schon legendäre Text erstmals im Konkret-Literatur-Verlag erschienen war. »Was ich nicht verstehe, ist dieser Geständniszwang und welche Belohnung er dafür erwartet. Das Kompliment ›schonungslose Ehrlich­keit‹? Aber was ist das wert? Zumal es so verworfen und sensationell nicht zugegangen ist, in seinem damaligen Leben.«

Das sind Fragen, die sich wohl viele stellen, wenn sie in »Peggy Sue« selbstquälerische Sätze lesen wie diese: »Würde ich mit ihr ficken, bevor ich nach Frankfurt ging? (…) Was bildete ich mir eigentlich ein? Sie war doch offen­sichtlich in festen Händen. Was sollte ich dickbäuchiger abgebrochener Student, der quasi als Hilfsarbeiter schuftete, mir für Il­lu­sionen machen.« Und als es dann doch einmal so weit kommt und erst einmal nicht richtig klappt mit dem Sex: »Ich blieb wach und fragte mich, ob ich je noch mal vernünftig wür­de ficken können.«

»Diederichsen hatte Recht«, räumt Wolfgang Frömberg in seinem Text in der Spex anlässlich der Suhrkamp-Aus­gabe im Jahr 2006 ein, »die Grenze zwischen der Person und der Figur Wolfgang Welt auf dem Papier ist dünn.« Welt schildert seinen Alltag zu Beginn der achtziger Jahre strikt auto­bio­grafisch. Der Autor berichtet von seiner beginnenden und mit einer Psychose jäh zu Ende gehenden Karriere als Musikjournalist für das Bochumer Stadtmagazin Marabo, für Sounds und den Musikexpress so frei assoziierend, als berichtete er seinem Psychoanalytiker davon.

»Ich schrieb wie schon in der Vergangenheit mal wieder automatisch«, heißt es in einer Passage der Erstveröffentlichung »Der Tunnel am Ende des Lichts«. Es ist die unvergessliche Stelle, an der sich der Erzähler Welt bereits für J. R. Ewing hält und die letzte Folge der Kultserie »Dallas« unbedingt an die Redaktion der Zeit telexen möchte, aus dem Bochumer Novotel, in dem der Zeit-Theaterkritiker Benjamin Henrichs logierte, nach der Uraufführung von Thomas Bernhards »Weltverbesserer«. »Automatisch schreiben« – das ist eine Klassifikation, die passt. Seine Romane erscheinen wie in Trance herunter­getippt, hastig, von einem Getriebenen. Die Handlung rast manchmal so sehr, dass der Leser selbst außer Atem gerät, während er ihr folgt.

Die Figur Welt bekommt in diesem unermüdlichen Selbstprotokoll zunächst unverhofften Aufwind, lernt Szenekönige wie den Journalisten Diedrich Diederichsen kennen und schreibt kompromisslose Verrisse wie seine berühmte Schmähkritik über den eitlen Schlagersänger Heinz Rudolf Kunze, in der er den studierten Sohn eines SS-Manns als »eine Art singenden Erhard Eppler« geradezu visionär charakterisiert: »Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.«

In Welts vollkommen distanzlos geschriebener Suada aus unmittelbaren Selbstbetrach­tungen wird der Leser jedoch gleichzeitig zum Voyeur, der mit den intimsten Problemen eines Außenseiters konfrontiert wird. Der Erzähler beschreibt seinen wachsenden Verfolgungswahn, seine in schnellerer Folge wiederkehrenden schizophrenen Schübe als ebensolche Selbstverständlichkeiten wie die anderen Banalitäten, die die stakkatohaf­ten Sätze dieser merkwürdigen Prosa zu ihrem Thema machen. Er brauche »einen roten Faden«, habe ihn der Suhrkamp-Lektor Müller-Schwefe einmal gemahnt, heißt es an einer Stelle im »Tunnel am Ende des Lichts«, und das Roman-Ich beruhigt sich sofort selbst, den habe es doch: »mich«.

Nun ist Wolfgang Welt also auf dem Weg nach Mar­burg, und mit dreistündiger Verspätung kommt er schließlich an. Ein aufgeräumt wirkender Herr mit stoßfestem Metallköfferchen entsteigt dem Regionalzug. »Ich fühle mich gut«, sagt er in seinem unüberhörbaren, lässigen Ruhr­pottslang. Für einen Nacht­portier des Bochumer Schauspielhauses, der seit 24 Stunden nicht geschlafen, nichts Ordentliches gegessen und den ganzen Tag in teils stehenden Zügen verbracht hat, eine erstaunliche Bermerkung. »Ich hoffe, ich kann dat Publikum gut unterhalten«, sagt er. Während der kurzen Autofahrt zum Lesungsort fällt ihm ein, dass er 1968 schon einmal in Marburg war: »Auf Klassenfahrt, mit Fuffzehn. Dat Highlight war ein Besuch in der Vorlesung von Wolfgang Abendroth. Da hatte ich aber natürlich kein Wort verstanden.«

Unterhalten, das kann er. Wenn man die Romane liest, ist man eher erschüttert. Wenn man aber den Autor selbst sieht, während er lässig Bier trinkt und sie vorliest, lacht man plötzlich laut auf – obwohl man doch auch weiß, dass es der Text-Figur sehr ernst ist, wenn sie etwa beschreibt, dass sie sich für J. R. Ewing hält. Die Psychose, das ist in diesen Romanen bitterer Ernst, eine nicht infrage zu stellende Realität. Man weiß nicht, worüber man sich während der Lesung mehr wundern soll: über Welts trockene Selbst­ironie gegenüber den vorgetragenen Protokollen der eigenen Krankheit oder über die eingestreuten anekdotischen Ergänzungen zum Text, die bemüht sind, dessen Authentizität zu verteidigen.

Am Ende des Abends ist jedenfalls klar: So detailreich und dramatisch ist das Wahnsinnigwerden in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 wohl noch nie beschrieben worden. Welt hat die postmoderne Version von Georg Büchners »Lenz« verfasst und wird damit in die Literaturgeschichte eingehen, früher oder später. Vieles spricht außerdem dafür, dass dieser Autor mit dem, was er da in wenigen Urlaubswochen heruntergeschrieben hat, noch lange nicht abgeschlossen hat. Nur mit der Musikszene möchte er nichts mehr zu tun haben: »Dat interessiert mich alles nicht mehr. Ich höre nur noch WDR 4.«

Wolfgang Welt: Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe. Drei Romane. Suhrkamp 2006, 488 S., 15 Euro