»Zwei Prozent wären ein Erfolg«

Ein Gespräch mit michael wendl von Verdi über die Tarifrunde, Mindestlöhne und die wachsenden Differenzen zwischen den Lohnabhängigen

Michael Wendl ist stellvertretender Vorsitzender von Verdi in Bayern und für Tarifpolitik zuständig.

Die Arbeitslosenzahlen sind rückläufig, zugleich verzeichnet Deutschland nach Jahren der Stagnation erstmals wieder ein nennenswertes Wirtschaftswachstum. Was sind die Gründe dafür?

In allen kapitalistischen Gesellschaften gibt es Konjunkturzyklen, und das gegenwärtige relative Wachstum bewegt sich innerhalb eines normalen Zyklus. Die Unternehmen, die hauptsächlich für den Export produzieren, haben steigende Auftragszahlen, um der wachsenden Nachfrage nachzukommen, erneuern sie ihre Kapitalausrüstung und investieren in Maschinen etc. Kurz: Es handelt sich um einen Investitionszyklus.

Die historische Konjunkturforschung hat die Existenz regelmäßiger Konjunkturzyklen nachgewiesen, das Thema war früher Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Diskussionen. Nach 1990 ist die Existenz von dem Kapitalismus immanenten Krisen- und Konjunkturzyklen weitgehend in Vergessenheit geraten. Das hängt damit zusammen, dass marktradikale Ansichten in der Wirtschaftswissenschaft überwiegen. Und die halten jede Krise für die Folge einer falschen Lohnpolitik oder einer falschen Wirtschaftspolitik.

Dennoch könnten sich die Unternehmer darin bestätigt fühlen, dass mäßige Lohnsteigerungen zu größerem Wachstum und somit zu einer höheren Beschäftigung führen.

Nein, die Unternehmen haben keine Veranlassung, sich im Recht zu fühlen. Denn der jetzige Aufschwung ist relativ schwach und wird allein von den industriellen Branchen getragen, die für den Weltmarkt produzieren.

Das heißt, der Verweis auf vermeintliche Erfordernisse der Globalisierung, die die Unternehmer so gerne ins Spiel bringen, stimmt gerade nicht. Im Gegenteil, genau in den Industriebranchen, die sich auf dem Weltmarkt behaupten müssen, können hohe Lohnforderungen durchgesetzt werden, weil die Betriebe eine herausragende Wettbewerbsposition haben. Deutschland ist das einzige der großen alten Industrieländer, das durch den Aufstieg von China und Japan keine Anteile am Welthandel eingebüßt hat. Die Nachfrage im Inland hingegen ist durch die schlechten Lohnabschlüsse der vergangenen zehn Jahre nachhaltig beschädigt.

Nach dem Willen der Gewerkschaften soll sich das bald ändern. Ist die Zeit der Zurückhaltung vorbei?

Es wird mit Sicherheit mehr geben. Allerdings betrug schon im vorigen Jahr der Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie drei und in der Stahl­industrie sogar vier Prozent. Die IG Metall hat also bereits im letzten Jahr die Zurückhaltung aufgegeben.

Die IG Metall sieht sich selbst als »Lohn­lokomotive« und meint, dass ihre Erfolge auch den Beschäftigten in anderen Branchen zugute kommen. Entspricht das den Tatsachen?

Früher gelang es tatsächlich anderen Gewerkschaften, im Windschatten der IG Metall annähernd so hohe Abschlüsse zu erreichen wie die Metaller. Aber das funktioniert heute nicht mehr. So wirkte sich der relativ hohe letzte Abschluss in der Metallbranche nicht auf andere aus; die Abschlüsse im Dienstleistungsbereich blieben bei einem oder anderthalb Prozent und im öffentlichen Dienst faktisch bei Null.

Wir haben also eine gespaltene Tariflandschaft: auf der einen Seite den weltmarktorientierten Bereich, der hoch wett­bewerbsfähig ist und in dem die Arbeitnehmer höhere Löhne durchsetzen können, und auf der anderen Seite den Bereich, der Waren und Dienstleistungen für den Binnenmarkt anbietet.

Am 31. März läuft nicht nur der Tarifvertrag in der Metallindustrie aus, sondern in einigen Bundesländern auch im Einzelhandel. Wie viel wird Verdi für die knapp zwei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel fordern?

Dem kann ich nicht vorgreifen. Aber natürlich wollen wir eine kräftige Lohn­er­höhung, weil in den vergangen Jahren im Einzelhandel die Lohnerhöhungen unter einem Prozent und damit deutlich unter der Preissteigerung geblieben sind. Aber ich bin mir leider sicher, dass unser Abschluss deutlich geringer ausfallen wird als der Abschluss der Metaller. An zwei Prozent heranzukommen, wäre schon ein Erfolg.

Denn infolge der schwachen Binnennachfrage gibt es im Einzelhandel einen harten Wettbewerb, und der Druck auf die Arbeitskosten ist hoch. Der Abbau von Stellen dauert fort, die Leute fürchten um ihre Arbeitsplätze. Darum sind wir längst nicht in der Weise durchsetzungsfähig wie die IG Metall.

Was folgt daraus, wenn die Unterschiede zwischen den Lohnabhängigen immer größer werden?

Früher zeichnete sich Deutschland, ebenso wie beispielsweise die skandinavischen Länder, durch eine eher egalitäre Lohnstruktur aus. Inzwischen haben wir eine ähnlich große Lohnspreizung, wie sie in den USA oder in Großbritannien seit langem existiert. Das führt zu einer stärkeren Fragmentierung der Lohnabhängigen und zu einer erheblichen politischen Schwächung der Gewerkschaften.

Wären Mindestlöhne ein Ausweg?

Auf jeden Fall. Ich persönlich bin der Ansicht, dass die gewerkschaftliche Tarifpolitik auf eine schiefe Bahn geraten ist, aus der sie sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. Für Branchen wie den Einzelhandel brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn und eine stärkere staatliche Unterstützung von niedrigen Einkommen.

Warum konzentrieren sich die Gewerkschaften dann nicht auf den Niedrig­lohn­sek­tor?

Da gibt es Widerstände innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die IG Metall hat sich lange dagegen gesperrt, Mindestlöhne zu fordern, die IG BCE tut dies immer noch. Denn beide Gewerkschaften sind von diesen Problemen nicht oder nur in sehr geringem Maße betroffen.

Verdi hingegen hat eindeutiges Interesse an einem Mindestlohn. Aber auch bei uns gibt es Probleme: 80 Prozent unserer Mitglieder interessieren sich für dieses Thema einfach nicht, weil sie mehr verdienen als die 7,50 Euro, auf die sich ein Mindestlohn vielleicht belaufen würde. Und die meisten derjenigen, die weniger als 7,50 Euro verdienen, sind wiederum nicht bei uns organisiert.

Wenn die schlechte Lohnentwicklung im Einzelhandel an der schlechten Geschäfts­lage liegt, wie sollen dann die Unternehmer einen Mindestlohn zahlen können?

Im Einzelhandel findet ein Verdrängungswettbewerb zwischen Großunternehmen statt, und natürlich sind die großen Konzerne wie Rewe, Edeka, Aldi und Lidl allesamt dazu in der Lage, 7,50 oder acht oder neun Euro zu zahlen; das sind große Unternehmen mit einer relativ starken Kapitalkraft. Aber für uns ist es schwierig, einen Mindestlohn durchzusetzen. Anders wäre es, wenn die Nachfrage nach Konsumgütern stärker wäre.

Ein Frisör, der seine Angestellten für einen Stundenlohn von 2,50 Euro beschäftigt, könnte dem entgegenhalten, dass er kein Großunternehmer ist und sich einfach keine höheren Löhne leisten kann.

Als Unternehmer sollte man dazu verpflichtet sein, menschenwürdige Löhne zu zahlen. Und ein Unternehmen, das nur existiert, weil es niedrigste Löhne zahlt, sollte besser ganz vom Markt verschwinden.

interview: deniz yücel