Die Proll-Position

Wer es mit der Abschaffung des Kapitalismus ernst meint, darf sich nicht davor scheuen, sich ins argumentative Handgemenge zu begeben. von john doe
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Wir kochen euer Essen, fahren eure Krankenwagen, holen euren Müll ab, wir stellen eure Anrufe durch. (…) Wir bewachen euch, wenn ihr schlaft. Versucht nicht, uns zu verarschen«, droht der von Brad Pitt gespielte Tyler Durden in David Finchers Film »Fightclub«. Selten ist der Klassenkampf so sexy und zeitgemäß propagiert worden. Und Tyler Durden hat weitere coole Weisheiten parat: »Wir wurden durch das Fernsehen aufgezogen in dem Glauben, dass wir alle irgendwann einmal Millionäre sein würden, Filmgötter, Rockstars. Das werden wir aber nicht!« Und er hat Recht: Wir werden wirklich alle verarscht. Im Jargon des linken Elfenbeinturms wird das Ganze »psychische Beschädigungen des Subjekts durch die kapitalistischen Verhältnisse« genannt.

Der Trick besteht darin, die Menschen im ständigen Konkurrenzkampf gegeneinander antreten zu lassen; ihnen zu versprechen, sie könnten irgendwann zu den wenigen Gewinnern und nicht zu den vielen Verlierern gehören, die dieses System produziert. Doch die Grenzen zwischen Gewinnern und Verlierern sind längst nicht so klar. Vielleicht von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen werden alle verarscht – leitende Angestellte wie Bauarbeiter, Hausfrauen wie Supermodels, Polizisten wie Junkies leiden unter dem permanenten Konkurrenzkampf, der Degradierung zum bloßen Warensubjekt und dem Zwang zur Lohnarbeit, auch wenn die einen ihre Haut etwas teurer verkaufen können als die anderen. Niemand findet das so richtig prickelnd, und doch beteiligen sich alle aus Mangel an Alternativen an diesem kollektiven Amoklauf.

Ich fand das Ganze – insbesondere die Sache mit der Arbeit – schon immer ziemlich unattraktiv. Frühzeitig war mir klar, dass, solange meine Sneakers aus einem Sweatshop kommen, Krieg herrscht; dass die Ordnung der Welt ein »fortwährendes Blutbad« ist, wie es Toni Negri und Michael Hardt so treffend formuliert haben; dass es mir zwar nie so mies gehen wird, wie den Abermillionen, die im Dreck leben, ich aber dennoch zu der übergroßen Mehrheit der Loser gehören werde.

Wenn ich Glück habe, werde ich mein Leben lang für jemand anderen arbeiten müssen. Wenn ich Pech habe, hat irgendwann niemand mehr ein Interesse daran, meine Arbeitskraft auszubeuten. Mit einem Hauptschulabschluss und ohne eine abgeschlossene Ausbildung sind meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt so schlecht, wie sie nur irgend sein können. Die Verweigerung einer bürgerlichen Berufskarriere brachte mir zwangsläufig Konsumverzicht und jede Menge schlechte Laune ein. In einer neoliberalen Gesellschaft hat eine solche Risikobiographie weder eine ökonomische Grundlage, noch existiert eine soziale Bewegung, die sie auffangen könnte. Tja, selber schuld!

Ungezogene Proll-Schmuddelkinder wie ich waren lange Zeit die Adressaten klassenkämpferischer Propaganda. Inzwischen haben aber auch die Dümmsten erkannt oder bei Marx nachgelesen, dass eine bestimmte Klassenlage nicht zwangsläufig ein kritisches oder gar revolutionäres Bewusstsein mit sich bringt. Und trotzdem ist die Wahrnehmung bestimmter Facetten der sozialen Wirklichkeit für jemanden, der ALG II bezieht, vielleicht doch einfacher als für jemanden mit einem Einkommen, das deutlich über der Armutsgrenze von 730,20 Euro liegt.

Und vielleicht verspüren Menschen, die eine ähnliche Sozialisation erfahren haben wie ich, auch das eher als andere: die Wut über die Verhältnisse. Nicht nur die Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung der Verhältnisse, sondern auch das pure Entsetzen darüber, wie die Welt eingerichtet ist, treibt mich auf die Barrikaden. Klingt moralistisch? Ist es auch! Na und?

Mir ging es und geht es um »die Negation der bestehenden Verhältnisse, und zwar nicht nur mental, nicht theoretisch, sondern im ganzen Lebensvollzug, also ein Leben gegen die bestehenden Verhältnisse zu organisieren, möglichst direkt und konfrontativ«, wie es Karl Heinz Roth einmal formuliert hat. Dafür ernte ich mitleidige Blicke, Hohn und hin und wieder den gut gemeinten Ratschlag, ich möge doch endlich erwachsen werden.

Dabei ist nichts lächerlicher als das vermeintlich feindliche Mitmachen und die ebenso stille wie feige Kapitulation vor den unwürdigen Zuständen, weil man glaubt, die Alternative zum Elend des Kapitalismus sei die völlige Barbarei.

Heute ist nichts so sehr geächtet wie die radikale Kritik der Verhältnisse und die Idee von einer befreiten Gesellschaft. Damit stirbt auch der Gedanke daran, dass Menschen um ihre Befreiung kämpfen können. Daran zu erinnern, erscheint illusionär, lächerlich und kindisch. Angesichts der gegenwärtigen Schwäche der radikalen Linken besteht deshalb ihre wichtigste Aufgabe darin, die beste Idee in der Geschichte der Menschheit, nämlich die Idee der menschlichen Emanzipation, am Leben zu halten. Das geeignete Instrument dafür ist die Bildung von kritischem Bewusstsein. Daher sind alle Formen der Praxis, die diesem Zweck dienen können, für mich interessant.

Genau deshalb interessiert mich auch die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung. Denn in ihren besten Momenten ist es ihr gelungen, die Idee, dass die Dinge von Grund auf und zum Besseren verändert werden können, wieder ins Gespräch zu bringen.

Zu verdanken ist das aber nicht den Steuertheoretikern von Attac, sondern der Intervention der radikalen Linken. Dass in der »Bewegung der Bewegungen«, zumindest im deutsch- und französischsprachigen Raum, zugleich über Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik diskutiert wird, ist ebenfalls ein Verdienst dieser Intervention. Hätte sich die gesamte radikale Linke von der Bewegung angeekelt ferngehalten – so wie es jüngst an dieser Stelle ein Adornit aus dem Thüringer Wald forderte (Jungle World, 8/07) –, hätten in der Bewegung anstelle der Wischiwaschi-Kritiker von Attac tatsächlich zutiefst reaktionäre, nationalistische Strömungen die Pole-Position inne. Aber wer es mit der Abschaffung des Kapitalismus ernst meint, darf sich nicht dafür zu schade sein, sich ins argumentative Handgemenge mit den Dummbatzen der No-Globals zu begeben.

Die sympathische linksradikale Gruppe mit dem ausgesprochen blöden Namen »TOP Berlin« fasst in ihrem Aufruf zu den Protesten in Heiligendamm das Ganze wie folgt zusammen: »So verständlich der Wunsch nach Abgrenzung und Rückzug angesichts mancher Standpunkte in der Antiglobalisierungsbewegung auch sein mag – bei aller Kritik am Zustand der ›Bewegung‹ findet sich dort doch zumindest ein Resonanzboden für unsere Überzeugungen« (siehe auch Jungle World, 1/07).

Die Menschen in der Bewegung sind für eine radikale Gesellschaftskritik viel aufgeschlossener als andere. Sie sind eher dazu bereit, einem zuzuhören und selbst nachzudenken als die Prolls aus der Eckkneipe. So müssen selbst die Nörgler aus einem Frankfurter Lesekreis zugeben: »Neben etlichem Bekämpfenswertem, der Volkshuberei, dem Antisemitismus, dem biederen Reformismus wie der machistischen Randalegeilheit, wartet die ›Bewegung der Bewegungen‹ im Gegensatz zur restlichen Gesellschaft immerhin noch mit dem Anspruch auf, sich mit dem gegenwärtigen Zustand der Welt nicht abzufinden und ihn zum Besseren ändern zu wollen« (Jungle World, 3/07).

Der Protest gegen das Treffen der Charaktermasken in Heiligendamm eignet sich in ausgezeichneter Weise für eine antagonistische Praxis. An diesem politischen Großereignis wird niemand vorbeikommen; alle werden über das Spektakel berichten, allein deswegen wird jede linke Gruppe und jeder Aktivist sich dazu eine Meinung bilden müssen. Daher empfiehlt es sich tatsächlich, wie Juliane Nagel schreibt, »den G 8-Gipfel als eine Tribüne für emanzipatorische Debatten und reflektierte Proteste zu nutzen«, aber die »Grundlagen kritischer linker Theorie und Praxis in einem diffusen Bündniswirrwarr nicht zu vergessen« und »Bündnisse als Resonanzboden für eigene Inhalte zu nutzen« (Jungle World, 5/07).

Auch wenn ich die beliebte, aber dämliche Phrase »Resonanzboden« lieber meide, bleibt festzuhalten, dass dieses Thema in der radikalen Linken für harte Auseinandersetzungen sorgt und Differenzierungsprozesse beschleunigt, vielleicht auch zu Spaltungen führt. Mag sein, dass dadurch ihre politische Handlungsfähigkeit beeinträchtigt wird, aber diese Auseinandersetzungen dienen zugleich dazu, die Qualität der Kritik zu verbessern. Also neben viel Zank und Zeter am WG-Tisch macht diese Debatte alle klüger. Angesichts der Theorieentwicklung der vergangenen sieben Jahre besteht in dieser Beziehung Grund zum verhaltenen Optimismus – obwohl es nach wie vor sowohl am Willen als auch an der Fähigkeit mangelt, einen politischen Raum zu organisieren, in dem Debatten produktiv und nicht sektiererisch ausgetragen werden.

Dennoch wird sich der relevante Teil der radikalen Linken im Frühsommer in Heiligendamm einfinden und laut, deutlich und unmissverständlich für die Aufhebung der kapitalistischen Verhältnisse auf höchstem Niveau eintreten. Sie darf dabei nicht als Bittsteller daherkommen, sondern muss zumindest den Anspruch haben, jede konstruktive oder gar positive Beteiligung zu verweigern. Es darf ihr nicht um die allmähliche Transformation der verkehrten Gesellschaft durch Reformen gehen, sondern um deren Aufhebung. Die radikale Linke muss sabotierend, demontierend und destruierend auftreten; als reflektierter »singender und tanzender Abschaum der Welt« (Tyler Durden), der die Wut auf die Verhältnisse auf die Straße trägt.

Der Autor ist Mitglied einer anonymen autonomen Gruppe in Berlin-Kreuzberg.