Mein Haus ist aus Pappe

Immer mehr Menschen leben in Favelas. Mike Davis beschreibt in »Planet der Slums« die Verelendung der Städte. von felix baum

Eine Ironie der neueren Zeit besteht darin, dass ausgerechnet dort, wo der große Steuermann Mao den Marxismus zur Ideologie einer Bauernrevolution umbog, unerwartet wieder auftauchte, was in den alten Zentren vielerorts inzwischen nur noch eine verblassende Erinnerung bildete: eine Arbeiterklasse wie aus dem Bilderbuch des klassischen Marxismus, zusammengeballt an den Fließbändern riesiger Fabriken und von den Launen der Vorgeschichte unversehens in den Maschinenraum des Welt­kapitalismus befördert. Chinas blitzschneller Aufstieg zur globalen Wirtschaftsmacht ist nur der augenfälligste Ausdruck der Entstehung neuer Arbeiterklassen im Süden, die, wie Beverly Silvers Studie »Forces of Labor« (Jungle World 20/2005) gezeigt hat, keineswegs wehrlos sind, sondern ihre Produktionsmacht in bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne umzumünzen verstehen.

Dass jedoch nicht die Wolkenkratzer Shanghais oder Bangalores die Zukunft des Südens und des ehemals staatssozialistischen Ostens symbolisieren, sondern Elendssiedlungen unvorstellbaren Ausmaßes, bildet die zentrale These des neuen Buches von Mike Davis. »Planet der Slums« eröffnet mit der Feststellung eines »Wendepunktes in der Menschheitsgeschichte«: Erst mal lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in den Städten, nicht mehr auf dem Land. Seit 1980 hat sich die Zahl der städtischen Arbeitskräfte verdoppelt, manche Städte wie Dhaka, Lagos oder Kinshasa sind im zurückliegenden halben Jahrhundert gleich um das 40fache gewachsen. Allerdings ohne ein entsprechendes Wachstum der Wirtschaft. Die asiatischen Tigerstaaten stellen die großen Ausnahmen dar, und selbst deren starke Exportindustrien sind nicht annähernd in der Lage, die Masse der freigesetzten Arbeitskraft aufzusaugen.

Was sich vor diesem Hintergrund in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, ist eine rapide Ausbreitung von Slums. Knapp eine Milliarde Menschen leben bereits heute in Elendssiedlungen, in denen es an Trinkwasser, sanitären Anlagen und Müllentsorgung mangelt, und für die Hoffnung, dass diese Entwicklung aufzuhalten sei, besteht keinerlei Anlass. Von dem Vorhaben, die Shanty-Towns und Favelas durch staatliche Wohnungsprogramme zu beseitigen, haben sich Regierungen und internationale Institutionen längst verabschiedet. Störende Slums, also vor allem innerstädtisch gelegene, werden ersatzlos geräumt; zurzeit etwa, wie der moderne Weltbürger am Heimcomputer verfolgen kann, in Delhi, das für ein sportliches Groß­ereignis im Jahr 2010 mittels Bulldozern verschönert wird.

Die zeitgenössische Rhetorik von »Partizi­pation« und »Selbstermächtigung« wiederum, mit der NGO und Weltbank die Vergabe von Besitztiteln als Wundermittel propagieren, zerlegt Davis als »Illusionen der Selbsthilfe«, die nur darauf hinauslaufen, vormals kostenlos angeeignetes Land in Wert zu setzen und die Solidarität unter den Slumbewohnern durch die Entstehung neuer Eigentümerschichten zu untergraben.

Die Bewohner der Elendssiedlungen rechnet Davis zu allergrößten Teilen einem »informellen Proletariat« zu. Vor allem aufgrund der Struktur­anpassungsprogramme des IWF sei überall auf der südlichen Halbkugel die Beschäftigung in privater Industrie wie staatlichem Sektor zurückgegangen.

Obwohl die Produktionsketten von Großunternehmen in Gestalt von Schwitzbuden und Heimarbeit bis in die Slums reichen, muss die Masse ihrer Bewohner ihr Auskommen in der Schattenwirtschaft suchen. Weil sich immer mehr Habenichtse in den Nischen der städtischen Ökonomie drängen, sinken auch dort die Einkommen, wie Davis an den Rikscha-Fahrern Dhakas illustriert. Nur »eine an Wunder grenzende ökonomische Improvisationskunst« sichert den meisten überhaupt das Überleben.

Diese Tour de Force durch die neue urbane Geografie der Klassenverhältnisse könnte dazu verleiten, das oft geschmähte Genre der Populärwissenschaft zu preisen. In schönstem Gegensatz zum Gros der Akademi­kerzunft, der er als Universitätsdozent für Stadttheorie in Los Angeles selbst angehört, versteht es Davis, Wesentliches von Unwesentlichem zu scheiden, beachtliche Literaturberge auf ein schmales Buch einzudampfen und vor allem zu schreiben.

Allerdings macht sich der populärwissenschaftliche Charakter des Buches auch höchst unangenehm in einer Neigung zur moralischen Anklage bemerkbar. Wo es um die oft tödlichen Folgen der hygienischen Zustände in den Slums geht, entdeckt Davis »Babymörder«, das Ende der nachholenden Entwicklung wird als »Verrat des Staates« gedeutet. Für Davis ist die historische Tendenz des Kapitals, menschliche Arbeitskraft außer Kurs zu setzen und dergestalt ein beständig wachsendes Heer von Überflüssigen zu erzeugen, erklärtermaßen unerheblich für die Ausbreitung der Slums.

Nicht innere Schranken ließen demnach die etatistischen Entwicklungsregime im Süden scheitern, sondern, wie Davis an der Grenze zur Verschwörungstheorie behauptet, eine »künstliche, von IWF und Weißem Haus in die Wege geleitete Depression«. Wo das Verhältnis von Nationalstaaten und Weltmarkt zu untersuchen wäre, wird der ökonomische Zwangszusammenhang kurzerhand in den guten oder schlechten Willen der politischen Akteure aufgelöst. Nicht nur der kubanische Staatssozialismus, auch Staatsmänner wie Nasser, Nehru und Sukarno kommen dabei erstaunlich gut weg.

Als bedürfe die Misere der Slums zusätzlicher Dramatisierung, verfällt Davis zudem immer wieder in die Pose des Verkünders einer nahenden Apokalypse. Das Szenario kann gar nicht düster genug ausfallen, an manchen Stellen scheint die Darstellung von einer eigenartigen Sensationslust getrieben. Für diese Schlagseite ist »Planet der Slums« bereits aufs Heftigste kritisiert worden, nicht zuletzt, weil sie die hier und da eingestreuten Hinweise auf den Widerstand der Slumbewohner als bloße Pflichtübung erscheinen lässt.

Die britische Zeitschrift Mute hat den Slums im vorigen Jahr ein ganzes Heft gewidmet, das sich insbesondere mit den Kämpfen in den Armensiedlungen befasst, um Davis’ düsteres Gemälde zu korrigieren. So berichtet Richard Pithouse, wie ein Basiskomitee von Slumbewohnern im südafrikanischen Durban, in dem er selbst aktiv ist, sich mit der lokalen ANC-Regierung anlegt, einen Wahlboykott organisiert und das Alltagsleben im Slum revolutioniert. Davis übersehe, dass der von ihm beklagte Rückzug des Staats aus den Elendssiedlungen auch der Autonomie einen Raum eröffne – was es etwa einem südafrikanischen Slum erlaubte, bereits 1950 die Schwulen-Ehe einzuführen. Mit seiner naturalisierenden Beschreibung – tatsächlich bezeichnet Davis die rasche Ausbreitung der Slums als »Sintflut« – folge »Planet der Slums« einer »imperialen Methode«, die sich unkritisch auf Quellen wie die UN oder akademische Studien stütze, anstatt mit den kämpfenden Marginalisierten zu sprechen.

Dieses Mangels scheint sich Davis allerdings bewusst zu sein. Als Folgeband zu »Planet der Slums« ist eine Untersuchung über »Geschichte und Zukunft des in den Slums verwurzelten Widerstands gegen den globalen Kapitalismus« angekündigt.

Mike Davis: Planet der Slums. Aus dem Englischen von Ingrid Scherf. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2007. 248 Seiten, 20 Euro