Irrflug über Nazi-Germany

Die Provinz ist zu groß, um sie in einer Woche zu bereisen. Mit Google Earth geht es an einem Vormittag. von jesko bender

Auf der Bergmannstraße ist gerade nicht viel los. Es ist gleich halb zwölf, der Vormittag ist verregnet, draußen sind nur Menschen zu sehen, die hastig durch die Gegend laufen und in die U-Bahn stürmen. Viel zu tun gibt es auch nicht, außer im Internet herumzusurfen und zu hoffen, dass sich in der Provinz weltbewegende Dinge ereignen.

Versuchen wir’s mit Google Earth. In einer atemraubenden Geschwindigkeit gerät Berlin aus dem Blickfeld, kurz sieht man den Tiergarten am oberen Bildrand, es bleibt aber nicht einmal genug Zeit, um den Reichstag mit seinen Deutschland-Fahnen zu orten. Es ist, als würde man in einer Rakete ins Weltall geschossen. Am rechten Bildrand taucht das ICC auf, nur um im selben Augenblick schon wieder auf der linken Seite des Monitors zu verschwinden. Aus Schwindel erregender Höhe ist nichts außer einem schier unendlichen Grün zu sehen.

Kaum aber haben sich die Augen an die Farbe des deutschen Waldes gewöhnt, geraten bereits die Alpen ins Bild. Der Höhenmesser fällt rapide, dort liegt München, kommt in bedrohlicher Geschwindigkeit näher. Die Angst wächst, mit voller Wucht auf den Boden zu knallen, mitten auf die Dorfstraße von Wackersberg. Oder gleich auf den Friedhof, der sich jetzt neben der Kirche erkennen lässt. Abrupt bremst Google Earth die rasante Fahrt jedoch ab, nachdem der virtuelle Blick innerhalb von fünf Sekunden mehrere hundert Kilometer zurückgelegt hat.

In Wackersberg bei Bad Tölz wurde ein Berg nach Adolf Hitler benannt – zumindest auf Google Earth. Im Ort herrscht bereits große Empörung darüber. »Ich bin jetzt 64 Jahre alt, aber die Bezeichnung ›Hitler-Berg‹ habe ich noch nie gehört. Was soll der Blödsinn«, fragt der Bürgermeister Georg Kellner (CSU). Aber ist das alles nur Blödsinn? Vielleicht stecken ja die ehemaligen Gebirgsjäger dahinter. Immerhin findet in Mittenwald jedes Jahr ihr Pfingsttreffen statt. Vielleicht hecken sie einen hinterhältigen Plan aus und schwelgen im kommenden Mai nicht auf dem »Hohen Brendten« in Erinnerungen an ihre nationalsozialistische Kameradschaft, sondern auf dem eigens für diesen Anlass benannten »Adolf-Hitler-Berg«. Mittenwald ist schließlich nicht allzu weit von Wackersberg entfernt.

Rund um die kleine Gemeinde liegen sauber bestellte Felder, die Isar schlängelt sich durchs Tal. Der Isarwinkel, in dem Wackersberg liegt, lädt zu einem romantischen Urlaub ein. »Nicht bedrohlich schroff« sei die Gegend, heißt es verlockend auf der Homepage der Gemeinde, »sondern malerisch und mild präsentiert sich das Alpenpano­rama vom alten Dorf aus«. »Malerisch und mild« klingt der Name »Adolf-Hitler-Berg« aber nicht gerade. Zwischen 1933 und 1945 war der Berg nach Hitler benannt, in dieser Zeit stand ein zehn Meter hohes Hakenkreuz auf dem Gipfel, wie der Tölzer Journalist Christoph Schnitzer sagt.

Google Earth hat diesen Umstand offenbar in Erinnerung, denn das Programm versieht bestimm­te historische Orte mit entsprechenden Hinweisen. Heute heißt der Berg eigentlich Heigelkopf. Aber dass ausgerechnet der Bürgermeister vom Hitler-Berg angeblich nichts weiß, macht die ganze Angelegenheit verdächtig.

Verdächtig ist auch ein nicht genau spezifizierbares, längliches Fahrzeug, das auf einem Parkplatz an einem Feldweg abgestellt ist, der direkt in Richtung Hitler-Berg führt: Es hat die Farben schwarz, weiß und rot. Vermutlich ein Nazi-Truck. Hier scheint Großes bevorzustehen. Ein Fall für die Antifa? Vielleicht hat sie aber schon lange die Flucht ergriffen, eine Gegend, in der womöglich Nationalsozialisten planen, mit Trucks den Adolf-Hitler-Berg zur Festung auszubauen, ist ganz und gar unromantisch.

Was ist sonst noch los in der deutschen Provinz? Auf geht’s zurück nach Norden. Das Amtsgericht von Schönebeck in Sachsen-Anhalt hat fünf Männer zu jeweils neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil sie im Juni des vergangenen Jahres bei einer »Sonnenwendfeier« in Pretzien das Tagebuch der Anne Frank verbrannt hatten. Keiner der Feiernden, unter ihnen auch der Bürgermeister Friedrich Harwig von der Linkspartei, störte sich daran. Ein Angeklagter erklärte, er habe sich mit dieser Tat von einem »bösen Kapitel der deutschen Geschichte« befreien wollen. Wird man automatisch so, wenn man in Sachsen-Anhalt aufwächst?

Bereits beim Anflug auf Pretzien stellt sich die Gewissheit ein, dass es besser ist, sich hier möglichst unauffällig in der Luft zu bewegen. Ein Ort, der seine Straßen Wolfsschlucht oder Schwarzer Weg nennt, wird Fremden nicht gerade freundlich gesonnen sein.

Während draußen in Berlin der Regen gegen die Scheibe klatscht, zeigt sich Pretzien in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Die Bäume erstrahlen in sattem Grün, die zahlreichen, hellblau leuchtenden Swimmingpools sind mit erfrischendem Wasser gefüllt. Aber kein Mensch ist zu sehen, weder an den Pools noch in den Gärten. Nur hier und da bewegt sich ein vereinzeltes Auto auf der Straße, ganz so, als solle Alltäglichkeit vorgetäuscht werden.

Doch diese ist verräterisch: Außerhalb des Dorfes, ausgerechnet am Pretziener Wehr, parken acht Autos, so viele wie im gesamten Dorf nicht. Neben dem Gebäude liegen weiße Gegenstände auf einer Wiese. Das könnten in Plas­tik eingerollte Strohballen sein. Vielleicht aber auch getarnte Luftabwehrgeschütze. Es scheint ratsam, sich langsam und unauffällig wieder in die Höhe zu begeben. Die deutsche Provinz macht einen recht schnell depressiv. Abflug!

Aber die Nazi-Geschichte nimmt kein Ende. Beim Anflug auf Berlin leuchtet auf Google Earth neben dem Ortsnamen ein Link mit der Bezeichnung »Nazi-Germany« auf. Die ganze Stadt ist jetzt auch noch dreidimensional zu sehen. Aber es sind immer noch die gleichen Leute auf der Straße, nichts hat sich verändert. Dann heißt es jetzt wohl: raus in den vollkommen verregneten Berliner März, wo die Menschen hastig in die U-Bahn flüchten.