Kamerad Stalker

In Nordhessen beobachten Neonazis ihre Gegner, veröffentlichen Steckbriefe von ihnen im Internet und bedrohen sie. von jan schlemermeyer

Ein entspannter Morgen sieht anders aus. Als Sabine Peterle* vor vier Wochen ihre Wohnung in Kassel verließ, klingelte ihr Handy. Der unbekannte Anrufer beschrieb der 19jährigen Schülervertreterin detailliert den Rucksack, den sie trug, und legte wieder auf. Offenbar handelte es sich um mehr als um einen schlechten Witz. »Die Situation war ganz schön bedrohlich«, erzählt Peterle der Jungle World.

Nachdem der Kreisschülerrat des Schwalm-Eder-Kreises Mitte Februar ein Wochenendseminar über »Strategien gegen Rechtsextremismus in Schule, Stadt und Politik« organisiert hatte, gerieten einige Schülervertreter ins Blickfeld der nordhessischen Neonazi-Szene. Nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau werden sie seither »regelrecht mit Telefonterror überzogen«.

Sabine Peterle bekam mehrfach, nach­dem sie das Haus verlassen hatte, SMS-Botschaften mit dem Wortlaut: »Wir sehen dich«, und unbekannte Anrufer brüllten »Heil Hitler!« ins Telefon. Im Internetgästebuch des Kreisschülerrats drohte ein User mit dem Namen »NS Hardcore« unverhohlen: »Wir haben Namen und Adresse, kein Vergeben, kein Vergessen!«

Seit geraumer Zeit sammeln junge Neonazis in Nordhessen persönliche Daten ihrer Gegner und veröffentlichen diese in internen Foren von Internetseiten wie »Festung Hessen« oder auf der Seite des »Freien Widerstands Kassel«. Dort konnte man etwa unter der Rubrik »Linksextremismus« Namen, Fotos, Adressen, Telefonnummern und Ausschnitte von Stadtplänen mit dem eingezeichneten Weg zu den Wohnungen von politischen Gegnern besich­tigen.

Die Daten haben die Neonazis offenbar zu einem Großteil im Internet, etwa von der Seite der Landes­schülervertretung Hessen, zusammengesucht. Bereits vor zwei Jahren stahlen außerdem rechtsex­treme Hacker bei einem Berliner Antifaversand Kun­denadressen. Vor zwei Wochen veröffentlichten die Rechtsextremen genau diese Daten unter großem Jubel auf ihren Seiten. Unter ihren Gegnern finden sich außer Schülervertretern Antifaschisten aus unterschiedlichen Gruppen und auch eine Vertrauens­lehrerin.

Ihren stalkenden Vorbildern im Fernsehen scheinen die Neonazis in puncto Gewalttätigkeit nicht nachstehen zu wollen. Jüngst wurde das Auto eines Antifas in Kassel, der auf der Internetseite www.antimanifest.de über die sich häufenden Aktionen der Neonazis in Nordhessen berichtet hatte, nachts von Unbekannten beschädigt. Einen Schüler im Schwalm-Eder-Kreis, dessen Schulweg im Internet detailliert beschrieben worden war, schlugen Neonazis vor kurzem zusammen, wie das Mobile Beratungsteam gegen Rechts­extremismus und Rassismus Hessen (MBT) berichtet.

Darüberhinaus betreiben die Rechtsex­tremen mit großer Ausdauer ihr virtuelles Engagement. In der vorigen Woche etwa tauchte ein Video auf der Internetplattform Youtube auf, in dem ein Vermummter den Namen und den Wohnort eines vermeintlichen Linken nennt und ihn bedroht.

Hinter den Aktionen steht nach Erkennt­nissen des Beratungsteams eine junge Szene aus Kassel und aus dem Schwalm-Eder-Kreis, die hauptsächlich in der Jugendorganisation der NPD und den so genannten freien Kameradschaften organisiert sei. Auffallend sei ein Generationswechsel in der Szene; viele Protagonisten wohnten noch zu Hause, kaum einer sei älter als 20 Jahre.

Bereits seit einem halben Jahr würden junge Neonazis aus diesem Spektrum auf linken Veranstaltungen auftreten und provozieren. Neu sei, dass die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Cliquen in Kassel und dem Umland vorangeschritten sei. Eine zentrale Funktion hätten dafür die verschiedenen rechtsextremen Internetseiten, die nach An­gaben des MBT in jüngster Zeit immer mehr werden.

Zwei Nachwuchskader der Jungen Nationaldemokraten (JN) scheinen in der Anti-Antifa-Kampagne eine wichtige Rolle zu spielen. Manuel von Berg, Ordnungsdienstleiter im hessischen Landesvorstand der JN, und Mike Sawallich, der stellvertretende Landesvorsitzende, sollen bei vielen Aktionen der nordhessischen Neonaziszene anwesend sein. Auf einem Treffen Ende September in Aßlar beschloss der Landesvorstand der Jungen Nationaldemokraten ein »Ak­tionsprogramm«, das neben dem »Kampf um die Dörfer« auch den »Kampf um die Schulen« beinhaltet. Wie der Kampf mitunter aussehen könnte, hat Sabine Peterle am eigenen Leib erfahren.

Mit dem Stalking gegen Schüler und Antifas will die organisierte Szene offenbar auch junge Leute an sich binden. Schließlich sind im Januar kommenden Jahres in Hessen Landtagswahlen, und dann gibt es für den rechtsextremen Nachwuchs Aufgaben, wie Plakate der NPD aufzuhängen oder Flyer in Briefkästen zu stecken.

Und was unternimmt die Polizei gegen das rechtsextreme Stalking? Nach der »hessischen Linie« des Innenministers Volker Bouffier (CDU) soll die Szene in Hessen mit polizeilichen Mitteln unter Druck gesetzt werden. Antifas sprechen hingegen von »Vertuschung«. Das Mobile Beratungsteam berichtet von einem Linken, der bedroht worden sei und anonym bleiben wolle. In seinem Fall habe die Polizei eher unwillig ermittelt.

Ein Polizeisprecher beim Präsidium Nordhessen, Wolfgang Jungnitsch, hingegen sagte der Jungle World: »Die Polizei schaut sehr genau hin.« Sie sei aber in ihren Möglichkeiten bedauerlicherweise eingeschränkt, etwa in der Frage der Online-Durch­suchungen. Der Status von internen Foren im Internet sei unklar, etwa ob sie zur Privatsphäre gehörten oder nicht.

Dass die Strategie der Neonazis nicht immer auf­geht, mussten einige Rechtsextreme vor kurzem selbst erleben. Auf einer Veranstaltung des DGB in der Kasseler Nordstadt sahen sich Mike Sawallich und seine Kameraden mit dem Zorn von Antifas und migrantischen Anwohnern konfrontiert. Die Polizei musste die Neonazis schließlich unter dem Einsatz von Pfefferspray in Sicherheit bringen. Die Kasseler Lokalzeitung Hessisch-Niedersächsische Allgemeine resümierte am nächsten Tag: »Nazi ins Gesicht gesprungen«.

*Name von der Redaktion geändert