Straight Stories

Mitfahrgelegenheiten

Als ich kürzlich zum 50. Geburtstag meines Bruders von Berlin nach Würzburg fahren musste, suchte ich mir eine Mitfahrgelegenheit im Internet. In Zeiten, da die Portemonnaies leer sind, reisen immer mehr Leute auf diese Art. Der schöne Nebeneffekt ist, dass man auf solchen Fahrten jedes Mal auf andere Menschen trifft. Ein paar Stunden lang sitzt man mit ihnen auf engsten Raum zusammen und lernt ihre Eigenheiten kennen.

Ich war mit dem Fahrer auf dem Alexanderplatz verabredet. Er kam zehn Minuten zu spät, war schwarz gekleidet und hatte seine langen, dunklen Haare zu einem Zopf gebunden. Auf seinem Auto klebte ein Aufkleber vom 1. FC Union Berlin. Mit uns fuhr eine junge Frau, die um die 20 Jahre alt war. Sie wurde von zwei Freundinnen zum Treffpunkt gebracht, der Abschied war ein einziges Herzen und Küssen. Der Dritte im Bunde war ein schweigsamer Mann um die 30.

Da ich vorne saß, kam ich mit Mike, so hieß der Fahrer, schnell ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er die Strecke jeden Freitag fahre, weil seine Freundin in Würzburg lebt. »Wir haben uns vor zehn Monaten beim Chatten im Internet kennengelernt. Das Dumme ist nur: Ich komme aus Berlin nicht weg. Ich bin hier geboren und arbeite bei einer Versicherungsgesellschaft.«

Er gab Gas, setzte den Blinker und überholte einen Lastwagen. »Wenn ich freitags ankomme, machen wir nicht mehr allzu viel. Wir entspannen und sehen fern. Am nächsten Tag gehen wir spazieren, kochen, was eben so läuft. Und am Sonntag steht schon wieder der Abschied ins Haus. Wir telefonieren jeden Tag.« Ich wunderte mich, was die Menschen so alles für die Liebe taten. Berlin hat über 3 000 000 Einwohner, also gut eineinhalb Millionen Frauen, aber dieser Typ verliebt sich ausgerechnet in eine Frau aus Würzburg.

»Mein Freund lebt auch in Würzburg«, sagte Daniela unvermittelt, die Mitfahrerin. »Er arbeitet als Roadie. Irgendwann ziehen wir zusammen, aber momentan geht es noch nicht, weil ich gerade eine Ausbildung mache.« Da wurde ich melancholisch und vermisste Helene. Wo sie wohl gerade war? Wahrschein­lich in der Schweiz bei ihrem Neuen, bei Alexandre.

Nachdem ich erzählt hatte, dass ich zum Geburtagsfest meines Bruders fuhr, wurde auch der Dritte im Bunde, Andreas, gefragt, wohin er denn wolle. Er atmete tief durch und ließ seinen Blick über die unzähligen Möbellager schweifen, die die Autobahn säumen. Im Hintergrund waren die Leuna-Werke zu sehen mit ihrem Qualm. »Ich bin in Würzburg geboren. Vorgestern ist mein Vater gestorben. Er ist auf sein Motorrad gestiegen, hat irgendwie zu viel Gas gegeben und die Kupplung losgelassen. Die Maschine kam ihm aus, und er fuhr an eine drei Meter entfernte Later­ne. Tot. Dümmer kann man nicht sterben.«

Die Windräder drehten sich gespenstisch über der Industrielandschaft. Ein Zug schwarzer Vögel war am Horizont zu sehen. »Ich treffe in Würzburg meine Schwester«, erzählte Andreas mit leiser Stimme weiter. »Wir müssen den Haushalt auflösen. Meine Mutter ist schon vor sieben Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«

An der nächsten Tankstelle machten wir Rast. Mike rauchte drei Zigaretten hintereinander, Daniela telefonierte mit ihrem Freund, und Andreas und ich standen verloren herum und schwiegen. Die Party meines Bruders wurde ein rauschendes Fest. Es gab exzellenten Wein aus Italien, Serrano-Schinken und Champagner, so viel man wollte. Viele Freunde und Verwandte waren da, und als alle ausgelassen tanzten, musste ich an Andreas denken.

stefan wirner