Die Zeit, als Blut und Persiko flossen

Die Biographie des Weltmeisters Eckhard Dagge zeichnet nicht nur eine große deutsche Boxerkarriere nach, sondern bietet auch ein Zeitgemälde aus der untergegangenen Bundesrepublik. von susann sitzler

Lange warten muss man nicht auf das legendäre Zitat. Es erscheint bereits im Titel. »Es sind schon viele Weltmeister Alkoholiker geworden. Aber ich bin der erste Alkoholiker, der Weltmeister wurde.« So heißt die Biographie des deutschen Weltmeisters Eckhard Dagge. Vorgelegt wurde sie von dem Hamburger Sportjournalisten Wolfgang Weggen.

Detailreich zeichnet er darin Eckhard Dagges Lebensweg nach. Angefangen beim wilden, aber schüch­ternen Dorfhelden aus Probsteierhagen in Schleswig-Holstein, der bereits mit 16 Jahren in drei Dorfkneipen Lokalverbot hatte und 1967 als Bundesgrenzschützer den Boxsport kennen lernte. Sein Talent fiel sofort auf und wurde gefördert. Als Amateur schlug er Ende der sechziger Jahre eine Schneise durch seine Gewichtsklasse, bevor er 1973 Profi wurde. 1976 besiegte er Elisha Obed im Superweltergewicht und wurde der zweite deutsche Weltmeister nach Max Schmeling.

Die Medien wollten in dem großen blonden Sportler mit dem breiten Lachen einen neuen Helden für die Massen sehen, einen Nachfolger von Bubi ­Scholz. Aber mit der Zeit verlor Dagge immer mehr Kämpfe gegen sich selbst und gegen seine Alkoholsucht. Irgendwann wohnte er auf St. Pauli, schlief am Tag und schindete sich nachts im Boxkeller der legen­dären »Ritze«, während nebenan die Prostituierten zugange waren.

Man merkt diesem Buch an, dass die journalistischen Wurzeln des Biographen Weggen in der Boule­vard-Berichterstattung von Bild und Hamburger Mor­genpost liegen. Das hat den Vorteil einer sehr bildhaften Sprache und einer sehr lebendigen Erzählweise. Es hat aber den Nachteil einer sehr geringen Distanz zum Protagonisten. Weggen lernte sein Idol im Jahr 1975 kennen, und schon im Vorwort schildert er mit geradezu masochistischer Lust, wie der Boxer ihn, der ebenfalls als Amateur im Ring gestanden hatte, hin und wieder beiläufig zur Kennt­nis nahm, sich von ihm sogar beim Joggen begleiten ließ. Gelegentlich schlägt die Anbetung in die Eitelkeit dessen um, der dabei gewesen ist. Die zu große, vielleicht vor allem ersehnte, Nähe des Biografen zu Dagge ist der Grund dafür, dass man als Leser die fehlende Distanz bei der Lektüre auszugleichen versucht und einem der saufende Boxer an vielen Stellen wieder fremd wird.

Dennoch ist es ein in vielen Passagen anrührendes Buch. Es bietet ein Zeitgemälde der Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre. Es gestattet Einblicke in ein Milieu, in dem Prügeleien am Wochenende zu den normalen Vergnügungen der Landjugend gehörten und in dem man mit Persiko und Rhabarberwein zum Alkoholiker wurde. Es sind Geschichten aus einer beinahe vergessenen Zeit, aus einer Epoche, in der es normal war, dass zwischen Männern Blut fließt – nicht nur im Ring. Damals gingen Titelkämpfe noch über 15 Runden, und die Ringrichter ließen sich von Blutströmen kaum beeindrucken. Auch, weil damals nur wenige Boxkämpfe im Fernsehen übertragen wurden und niemand um erschrockene Werbekunden fürchtete. Es war auch eine Zeit, in der ein Boxer in Deutschland selbst auf Weltniveau nur einen Bruchteil dessen verdienen konnte, was heute üblich ist. Für seine erste Titelvertei­digung gegen Emile Griffith erhielt Dagge 1976 gerade mal 120 000 Mark.

In einzelnen Texten kommen auch Weg­gefährten des Weltmeisters zu Wort. Dieter Kottysch etwa, gegen den Dagge 1972 als Amateur um die Olympia-Teilnahme in München boxte, erinnert sich, dass dieser »wirklich hauen konnte wie ein Pferd«. Für den damaligen Trainer Gerhard »Bubi« Dieter war »Eckhard kein großes Boxtalent«, habe aber ge­ackert wie ein Tier. Dagges langjährige Lebensgefährtin Marlies McDonald erinnert sich daran, dass er immer öfter seine vermeintlichen Freunde aushielt, damit sie bei ihm blieben und mit ihm soffen. Natürlich interessiert sich der Biograf auch für die vielen Frauen, mit denen Dagge oft gleichzeitig verbunden war.

Im Jahr 1977 verlor der Deutsche den Weltmeister­titel zum zweiten Mal, diesmal gegen Rocky Mattioli. 1981 beendete er seine Boxerkarriere im Alter von 33 Jahren nach einem verlorenen Kampf gegen den Briten Brian Anderson. Danach wusste er mit seinem Leben nicht mehr viel anzufangen. Eine Chance, als Trainer des aufstrebenden Talents Dariusz Michalczewski noch einmal den Boxsport mit­zuprägen, versoff er buchstäblich. 1998 erkrankte Eckhard Dagge an Kehlkopfkrebs. Am 4. April 2006 starb er in einem Hamburger Hospiz, im Alter von 58 Jahren.

Weggens Bedürfnis, dem großen deutschen Boxer so nahe wie möglich zu kommen, zerstört manchmal den Stil dieser Biographie. Aber vielleicht sagt es etwas über den Menschen Dagge aus: So, wie er in diesem Buch erscheint, war er ein zerrissener, innerlich instabiler Charakter. Aber auch einer, dem es bis zum Ende gelang, die besondere Liebe und intensive Fürsorge zahl­reicher Menschen zu erhalten.

Irgendetwas an Dagge muss die Frauen und Männer in seiner Umgebung berührt haben. Während der letzten Monate seines Lebens lagerte der junge Boxer Kim Weber Tag und Nacht auf dem Boden neben Dag­ges Bett, damit dieser nicht alleine sterben musste. Und dieses Besondere, vielleicht das Bedürftige des Alkoholkranken, der auch ein großer Sportler war, wird neben dem üppigen Material zu Dagges Karriere in diesem Buch spürbar.

Eckhard Dagge. »Es sind schon viele Weltmeister Alkoholiker geworden …«. Biographie von Wolfgang Weggen. Bombus-Verlag, 2006. 160 Seiten. 19,90 Euro