»Die Roma haben keine Stimme«

Rajko Djuric

Zwischen acht und zehn Millio­nen Roma leben in Europa, die meisten im Ost- und Südosten des Kontinents. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Unicef fand heraus, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen unter der Armutsgrenze lebt. Mehr als die Hälfte der Haushalte habe keine Wasserversorgung, zwei Drittel aller Familien hungerten zeitweise.

Rajko Djuric wurde im Januar ins ser­bische Parlament gewählt und ist der erste Politiker einer Roma-Partei, der ein Mandat besitzt. Er zählt zu den bekanntesten Vertretern der interna­tio­na­len Roma-Bewegung, er war Präsident der Internationalen Romani-Union und Generalsekretär des internationalen Romani-PEN-Zentrums. Von 1992 bis 2004 lebte er im Berliner Exil. Mit ihm sprach Boris Kanzleiter.

Viele Roma gehören zu den größten Verlierern der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Was sind heute die dringendsten Probleme?

In nahezu sämtlichen Bereichen gibt es Probleme – Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wohnen … Auch unter normalen Bedingungen leben die meisten Roma im Neunten Kreis der Hölle, wie dies Dante Alighieri sagen würde. In Krisen und im Krieg wird es für sie noch schlimmer, weil sie in solchen Zeiten oft zum Ziel rechtsextremistischer Angriffe werden.

Auch die ersten Opfer der Krise in Jugoslawien waren, was im Ausland kaum bekannt ist, Roma. Schon 1989, also zwei Jahre vor dem Beginn des Krieges, wurden sie aus dem bosnischen Mostar vertrieben. Die radikalste ethnische Säuberung wurde allerdings nach der Intervention der Nato im Jahr 1999 von albanischen Nationalisten im Kosovo durchgeführt. Davon will die internationale Gemeinschaft nichts wissen. Sie hat dabei zugeschaut.

Sie sind seit Jahrzehnten Protagonist der Roma-Bewegung in Jugoslawien. Wo steht diese Bewegung heute?

Wie in jedem klassischen Prozess der Na­tio­nen­bildung begannen die Menschen zunächst, sich als Angehörige einer bestimmt­en Gruppe zu fühlen, und zeigten Bereitschaft, sich für diese Gruppe einzusetzen. Eine zweite Phase bestand in der Kulturproduktion, die in Jugoslawien in den siebziger Jahren einsetzte. Romane und Gedichte wurden auf Romanes verfasst, es erschienen Zeitschriften und Zeitungen. In Jugoslawien begann dieser Prozess früher als anderswo, später folgten Ungarn und Tschechien. In Westeuro­pa hingegen gab es, abgesehen von Spanien, keinen vergleichbaren Prozess. Die dritte Phase besteht in der Politisierung und der Gründung von Organisationen. Darin befinden wir uns heute.

Unter welchen Umständen haben Sie begonnen, sich politisch zu engagieren?

Ich komme aus einer eher gut situierten Familie in der Vojvodina. Trotzdem hatte ich die Gelegenheit, das Leben der Roma im ganzen Land kennen zu lernen. Es war – wie heute – unter aller Würde. Sie lebten in Erdhütten und Autowracks. Als junger Mensch habe ich mich gefragt: Was ist das für eine Welt, in der ich lebe? Sie hatte nichts zu tun mit Sozialismus oder Kommunismus. Sie hatte nichts zu tun mit einer menschlichen Gesellschaft. Das war Barbarei.

Diese Erfahrungen haben bei mir kritische Gedanken erweckt. Es bestand eine tiefe Kluft zwischen den Idealen des Kommunismus und seiner Realität. Ich hatte das Gefühl, in einer Gesellschaft der Lüge zu leben. Im Frühjahr 1968, ich studierte damals Philosophie, entwickelte sich in Bel­grad eine Studentenbewegung, an der ich mich beteiligte. Die Proteste standen im Zusammenhang mit denen in anderen Län­dern. Ich war davon überzeugt, dass es möglich ist, eine menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Daran glaube ich heute noch.

Wie hat der jugoslawische Staat auf die Studentenbewegung reagiert?

Dazu möchte ich Ihnen eine Anekdote erzählen: Am 4. Juni 1968 schlug ich bei einem Streik der Belgrader Studenten vor, dass der Staatspräsident und Parteivorsit­zende Josip Broz Tito von allen Ämtern zurücktreten solle. Wegen dieser Forderung wurde ich von der Polizei verhört. Trotz allem verhielten sich die Polizisten korrekt, ich wurde nicht geschlagen, konnte mein Studium fortsetzen und wurde später sogar von der einflussreichen Tageszeitung Politika eingestellt und leitete in den achtziger Jahren deren Kulturteil.

Ganz anders war das nach der Macht­übernahme von Slobodan Milosevic Ende der achtziger Jahre. Als ich damals in einer Fernsehdiskussion sagte, dass Milosevic das ganze Land mit Benzin übergossen habe und es nun jeder Idiot anzünden könne, wurde zwei Tage später meine Wohnung demoliert, und ich musste um mein Leben fürchten. Später bin ich nach Berlin ins Exil gegangen.

Im Unterschied zu anderen Bevölkerungsgruppen in Jugoslawien haben die Roma keine territorialen Ansprüche angemeldet. Wie verhielt sich Ihre Bewegung zu den ethno-nationalis­tischen Strömungen in den verschie­denen Republiken der jugoslawischen Föderation?

Die Roma konnten sich in den siebziger Jahren nur in bestimmten Regionen Jugoslawiens mehr oder weniger frei artikulieren. Daher entstanden die meisten Vereinigungen in Serbien und Mazedonien, außerdem ein bisschen in Bosnien. In Slowenien, Kroatien und vor allem im Kosovo aber, wo es Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zu starken nationalistischen Protesten gekommen war, war es sehr schwierig.

Schon damals verübten albanische Nationalisten Morde an Roma. Für uns war damals klar, dass der Nationalismus in Kosovo und Kroatien am stärksten entwickelt war. In Serbien gab es auch Nationalismus, aber auf eine andere Weise. Die nationalistische Explosion begann hier erst mit dem Aufstieg Milosevics. Bis dahin war die serbische Gesellschaft relativ tolerant.

Sie haben lange in Berlin gelebt. Auf was für eine Gesellschaft sind Sie in Deutschland gestoßen?

Die Deutschen haben noch nicht alle Lehren aus ihrer Vergangenheit gezogen. Zwar wurde unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt die Vernichtung der Roma durch die Nazis offiziell anerkannt, aber unter Helmut Kohl und Gerhard Schröder wurde das Thema wieder verdrängt. Ein Ausdruck davon ist, dass in Berlin noch immer kein Mahnmal für die Roma existiert, die Opfer des Holocaust wurden. Sehr enttäuscht war ich auch über das Verhalten vieler Politiker gegenüber den Flüchtlingen aus Jugoslawien. Zuerst wur­den sie nach Bosnien zurückgeschickt, jetzt werden sie in das Kosovo abgeschoben, obwohl jeder weiß, dass es dort keine Sicherheit für sie gibt.

Im Kosovo lebten vor 1999 weit über 100 000 Roma. Die meisten sind seit dem Angriff der Nato vertrieben worden. Was denken Sie über die Zukunft des Kosovo, über die derzeit verhandelt wird?

Meine Position unterscheidet sich von der albanischen wie der serbischen Seite, aber auch von dem Vorschlag des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari. Meine Aus­gangsüberlegung lautet: Das Kosovo kann niemandem genommen oder niemandem gegeben werden. Alle müssen in diesem Territorium leben können. Dafür müssen die Bedingungen geschaf­fen werden. Vor allen territorialen Fragen hat deshalb die volle Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte für alle Einwohner des Kosovo Priorität.

Bei der Debatte um den zukünftigen Status hört man immer wieder, dass Serbien kein ausreichendes demokratisches Potenzial besitze, um das Kosovo wieder zu integrieren. Das ist richtig. Aber es kann auch niemand ernsthaft behaupten, dass im Kosovo ein ausreichendes demokratisches Potenzial für einen unabhängi­gen Staat bestehe. Alle reden nur von den beiden Nationen im Kosovo. Aber wo sind die anderen Einwohner? Die Roma waren von furchtbaren ethnischen Säube­rungen betroffen und haben keine Stimme bei den Verhandlungen. Europa wird einen hohen Preis dafür zahlen, wenn es im Kosovo die Menschenrechte nicht durchsetzt.