Schulausgang ungewiss

Eltern und Lehrer wehren sich gegen die Jagd der Pariser Polizei nach Kindern illegaler Einwanderer vor Schulen. Nach einer Blockade vor einer Grundschule wurde eine Schuldirektorin festgenommen.

Erschrockene Kinder, Schreie, Pfiffe, Eltern, die sich vor fahrende Polizeifahrzeuge werfen – ein Schreckensszenario, das sich in den vergangenen Wochen mehrfach vor den Eingängen verschiedener Pariser Grundschulen abgespielt hat. Hintergrund ist die Praxis der französischen Polizei, so genannte illegale Migranten, also Menschen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis, durch Festnahme ihrer Kinder beim Verlassen der Schule zur Ausreise zu zwingen.

Am Dienstag, den 20. März, wurde während einer solchen rafle – wörtlich »Jagd« –, ein chinesischer Einwanderer festgenommen. Er wartete mit anderen Eltern in einem Café im multikulturellen Stadtteil Belleville, dem Chinatown von Paris. Seine Kinder gehen auf die École Rampal, eine Grundschule auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Plötzlich stürmte die Polizei das Lokal und führte bei allen Gästen eine Ausweiskontrolle durch.

Als sich einige Eltern bei dem Abtransport des Chinesen der Polizei in den Weg stellten, wurden sie mit Hunden bedroht. Bei den Rangeleien, die sich anschließend vor das Café verlagerten, wurden vor den Augen der weinenden Kinder mehrere Menschen misshandelt. Pfefferspray kam zum Einsatz. Davon ließen sich jedoch die aus der Schule herbeigeeilten Lehrer und andere Eltern nicht abschrecken. Sie versuchten gemeinsam, die Polizei an der Verschleppung zu hindern.

Nach dem Eintreffen weiterer Verstärkung gelang es der Polizei schließlich, den älteren Mann, dessen zwei Enkelkinder auf die Rampal-Schule gehen, festzunehmen. Mehrere Personen legten sich jedoch vor die Polizeifahrzeuge und verzögerten so den Abtransport des Gefangenen. Nach diesen heftigen Protesten wurde der Mann am nächsten Tag wegen Abschiebehindernissen zwar wieder freigelassen, dafür nahm man jedoch am Freitag darauf die Direktorin der Schule, Valérie Boukobza, fest und verhörte sie sechs Stunden lang auf dem Polizeipräsidium.

Zahlreiche Eltern, Lehrer, Aktivisten und Politiker sammelten sich vor der Polizeistelle und verlangten die sofortige Freilassung der Direktorin. Der Leiterin der Schule wird Beamten­beleidigung und die Beschädigung eines Polizei­autos vorgeworfen. Zahlreiche Augenzeugen berichteten jedoch, dass die Direktorin lediglich die Schulkinder vor dem brutalen Polizeieinsatz schützen wollte: »Ich verstehe nicht, in was für einem Land wir leben«, erzählt verbittert François*, ein Vater, der die Auseinandersetzungen mitbekommen hatte. »Dass die Direktorin einer Grundschule festgenommen wird, weil sie die Kinder schützen wollte, das ist doch nicht normal!«

»Seit einigen Wochen ist die Stimmung in Belleville unerträglich geworden«, erzählt Cécile, die ebenfalls auf ihre Kinder vor der École Rampal gewartet hatte. Die rafles gehören schon fast zur Normalität. Bereits einen Tag vor der Festnahme des chinesischen Großvaters hatte die Polizei hier eine Frau ohne Papiere vor der Schule festgenommen. »Sie wollte ihre Nichte von der Schule abholen«, fügt cécile aufgewühlt hinzu.

Für die Einwohner von Belleville sind die täglich auf den Straßen zu beobachtenden Festnahmen von Ausländern unerträglich geworden. Eltern und Lehrer beginnen deshalb, sich über gemeinsame Blockaden zu verständigen und organisieren im nordöstlichen Paris Widerstand gegen diese inhumane Praxis der Polizei. »Unsere Kinder sind in Gefahr. Sie sind sehr aufgeregt«, erzählt Alice, eine junge Mutter. »Gestern fragten mich meine Kinder, ob die Polizei nicht dazu da ist, Menschen zu beschützen. Es ist sehr schwer, ihnen die Situation zu erklären.« Am Montag voriger Woche versammelten sich 2 000 Menschen zu einer Kundgebung, um die Direktorin der Schule zu unterstützen.

Rafle – dieser Begriff wird von Antirassisten bewusst benutzt. Er erinnert an die jüdischen Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs von der Polizei ebenfalls vor Schulen festgenommen wurden. Von dort wurden die Schüler in Vernichtungslager deportiert. An vielen Eingängen von Pariser Grundschulen hängen Schilder, die an die jüdischen Schüler erinnern. Alice meint: »Die gegenwärtigen Methoden der Polizei stehen in dieser Tradition.«

»Es wird immer schwieriger, solche Verhaftungen zu verhindern«, erzählt Leïla, eine Aktivistin des »9ème collectif de sans-papiers«. Das 9. Kollektiv setzt sich für die sofortige Legalisierung aller Sans-Papiers in Frankreich ein. Noch bis November 2005 veranstaltete die Pariser Polizei große Razzien durch. Sie sperrte ganze Stadtviertel, stoppte zahlreiche Verkehrsmittel und führte massenhafte Ausweiskontrollen durch. »Das ließ uns damals jedoch genügend Zeit, um Menschen zusammenzubekommen, die sich diesen Maßnahmen widersetzen konnten«, erläutert Leïla.

Mittlerweile fährt die Polizei mit nur wenigen Wagen vor Schulen oder Cafés und führt den Einsatz sehr schnell durch. »Sie bleiben vor einer Kneipe stehen und nehmen alle fest, die ›illegal‹ sind«, erklärt Leïla. Die Festgenommenen werden dann in Abschiebezentren gebracht.

»Ihre Angehörigen wissen oft gar nicht Bescheid, wo ihre Familienmitglieder sind. Innerhalb weniger Tage sind sie bereits abgeschoben. Die Jagdmethoden der Polizei sind dabei besonders zynisch«, erzählt Leïla weiter. So sperrte die Polizei im Winter Ausgänge einer Metro-Station und kontrollierte alle Personen. An dieser U-Bahn-Station verkehren am Abend viele Ausländer, da ein Verein dort eine Suppenküche für sie eingerichtet hat. »Genauso zynisch sind die Festnahmen von Sans-Papiers vor den Schulen, wenn die Eltern aus der Ano­nymität herauskommen, um ihre Kinder abzuholen.«

Während der vergangenen fünf Jahre hat die konservative Regierung die ausländerfeindlichen Gesetze deutlich verschärft. Dabei sind die Franzosen diesen Eskalationen nicht gleichgültig gegenüber geblieben. Während der Massenproteste gegen den Ersteinstellungsvertrag (CPE) im vergangenen Jahr, war die Abschaffung der neuen Einwanderungsgesetze auch ein Thema der Studenten bei ihrem Protest gegen den Abbau des Kündigungsschutzes.

Doch ohne Unterstützung linker Parteien und Gewerkschaften sind die Sans-Papiers zunächst verstummt. Zuletzt versuchten die Migranten, sich an der Obdachlosen-Initiative »Don Quichotte« (Jungle World 02/07) zu beteiligen. Diese hatte unter großer Aufmerksamkeit der Medien ein Zeltlager am Saint-Martin-Kanal eingerichtet, um auf das Problem der Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen. Die Obdachlosen-Initiative lehnte es jedoch ab, die Sans-Papiers an ihren Kämpfen zu beteiligen.

Der Widerstand gegen die Abschiebungen ist seitdem nicht schwächer geworden. Während des laufenden Präsidentschaftswahlkampfs werden die Massenverhaftungen und Abschiebungen von den Medien jedoch weitgehend ignoriert.

Deshalb beschlossen die Sans-Papiers zusammen mit dem 9. Kollektiv im Februar, das Haus der Gewerkschaften an der Place de la République zu besetzen. Leïla sagt: »Wir bekommen kaum Unterstützung von den Gewerkschaften, die sich so verhalten, als seien wir nicht da. Wir scheinen auch die hiesige sozialistische Stadtverwaltung nicht zu interessieren, der das Gebäude gehört. Das Haus der Gewerkschaften haben wir besetzt, weil wir auf die desolate Lage der Sans-Papiers aufmerksam machen wollten. Dafür brauchten wir Räume.«

Vor zwei Jahren wurde auf nationaler Ebene von Lehrern und Eltern die RESF-Bewegung »Réseau éducation sans frontières« (Netzwerk Bildung ohne Grenzen) gegründet, um die von Innenminister Nicolas Sarkozy forcierten Abschiebungen von Schülern, Gymnasiasten und heranwachsenden Sans-Papiers zu verhindern.

Kürzlich hat der Präsidentschaftskandidat Sarkozy die Bildung eines Ministeriums für »Migration und Nationale Identität« vorgeschlagen, wobei er vom rechtsextremen Front National bejubelt wurde. Wegen starker Proteste sah er sich bereits im Juni vergangenen Jahres gezwungen, eine Verordnung zu erlassen, nach der alle Eltern ohne legalisierten Aufenthalt und ihre Kinder in Frankreich bleiben dürfen, vorausgesetzt, die Kinder sind seit mehr als einem Jahr an einer Schule eingeschrieben.

Mehr als 30 000 betroffene Familien hatten gehofft, endlich aus der Illegalität herauskommen und ein normales Leben anfangen zu können. Doch die Verordnung legalisierte lediglich 6 000 Familien. »Das war eine Falle von Sarkozy«, erzählt die Direktorin einer anderen Pariser Grundschule, die sich im Netzwerk RESF engagiert. Sie will anonym bleiben, da sie, so sagt sie, von der Polizei beobachtet werde. »80 Prozent der Schulbewerbungen wurden vom Ministerium abgelehnt, größtenteils zu Unrecht. Viele Leute haben sich aber praktisch den Behörden gestellt und müssen jetzt mit einer Abschiebung rechnen«, fügt sie hinzu.

RESF sei eine neue Art, Widerstand zu leisten. Es gebe keinen Chef, keine Organisation, erklärt die Direktorin. »Diese Bewegung ist in den Schulen verankert, aber zugleich auch eine Bürgerbewegung. Es sind nicht die Lehrer, die diese Kämpfe in die Schulen hineingetragen haben, sondern die Eltern und die Kiez-Bewohner. Wir unterstützen dies selbstverständlich. Aber es waren die Eltern, die sich zuerst gegen die Abschiebungen von Schulkindern anderer Eltern einsetzten. Wir leben im 21. Jahrhundert, in dem Menschenrechte und Kinderrechte garantiert sein sollten. Kinder sollten das Recht auf Bildung haben und das Recht, mit ihrer Familie zu leben, unter einem Dach und in Sicherheit. Es kann nicht sein, dass diese Rechte missachtet werden, nur weil es sich hier nicht um Franzosen handelt. Es kann nicht sein, dass sie in Kriegs- und Armutsländer abgeschoben werden. Wir müssen diese Rechte verteidigen.«

Die Regierung ist sich dessen bewusst, dass die Schulen zum Ort des zivilen Ungehorsams, des Bürgerwiderstands gegen Repression im Allgemeinen geworden sind. Dabei spielen auch Lehrer eine wichtige Rolle. Sie informieren, verteilen Flugblätter und sind in der Lage, sehr schnell viele Eltern anzurufen, um eine drohende Festnahme zu vereiteln. »Wenn die Polizei in die Schule kommt und Kinder festnehmen will, haben wir deshalb einen Plan, wie wir die Kinder verstecken«, erzählt die Direktorin. »Ich werde mich auf jeden Fall dagegen wehren. Ich kann nicht anders handeln, als ungehorsam zu sein.«

Mit der Festnahme von Valérie Boukobza, der Direktorin der Rampal-Schule, versucht die Regierung, die Menschen und die Bürgerbewegung einzuschüchtern. Die Schulen seien die letzten existierenden gemeinschaftlichen Institutionen, meint der Sozialpädagoge Laurent Ott. »Sie sind zu einer Art demokratischer Parlamente geworden. Am Schultor treffen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft. Sie sind nicht mehr in ihren Wohnungen und aufgrund ihrer Unterschiede isoliert«, sagt Ott. Politiker seien sich dieser Herausforderung bewusst. »Schon mit dem so genannten Antiterrorismusplan ›Vigipirate‹ versucht man seit Ende der achtziger Jahre, die Schulen von der Außenwelt abzuschirmen. Dieser Plan ist zur Dauereinrichtung geworden und hat keine Rechtfertigung. Es wurde nie festgestellt, dass z.B. die Einzäunung von Schulen ein Attentat verhindern kann. Damit wurde einzig und allein erreicht, die sozialen Beziehungen zu beeinträchtigen. Es sieht aus, als wäre auch dies seine Funktion.«

Nach der gewalttätigen Festnahme in Belleville meinte Sarkozy zwar: »Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.« Doch das Potenzial der Bürgerbewegung und ihre Entschlossenheit hat er wohl unterschätzt.

Für Freitag hatten die Lehrer-Gewerkschaften zu einem Streik und einer erneuten Demonstration gegen die Abschiebungen und zur Unterstützung der Direktorin der Rampal-Schule aufgerufen. Rund 18 Prozent der Pariser Grundschullehrer beteiligten sich an dem Streik. Mehrere tausend Menschen zogen zum Bildungsministerium. Zu Zwischenfällen kam es nicht.

*Die Namen der Eltern wurden auf Wunsch geändert.