Bring den Müll rauf!

Hochkultur versus Trash – Frank Illing theoretisiert über die soziologische Dimension des schlechten Geschmacks. von michael saager

Anfang des Jahres widmete sich der Fernsehsender Arte dem Phänomen »Trash im Film«. Gezeigt wurde auch Russ Meyers fragwürdiger Klassiker »Motor Psycho« (1965). Ein Trio Halbstarker auf lächerlichen Mopeds braust dort stumpf durch die Wüste, unterbricht seine Tour allerdings gerne, wenn am Wegesrand eine verlockend vollbusige, stets knapp beschürzte Dame steht oder liegt. Die wird dann verprügelt und vergewaltigt, und natürlich sieht sie sehr sexy dabei aus. Wie im Rape’n’Revenge-Geschäft üblich, liegen die Täter am Ende tot im Staub, gerächt vom wütenden Ehemann, einem Tierarzt und Fachmann für Stuten, ausgerechnet.

Semiotisch geht es bei »Motor Psycho« – wie in so vielen (quasi-)pornografischen Filmen – vor allem um den Kick des Rezipienten anhand der Simulation einer drastischen Verfügungssituation. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Unterwerfungsstruktur hier keine einfache ist; sie modifiziert sich im Verlauf des Films. Am Ende steht der männliche Rächer – metaphorisch gesprochen – auf den Körpern der Täter, was nicht unbedingt bedeutet, dass sie deshalb seine Opfer sind. Die fetischisierte Struktur ungeheuerlichen Begehrens erfährt so eine moralische Entlastung. Das macht den Film zwar nicht besser, aber leicht goutierbar.

»Kult«, »kommerziell«, »Kitsch«, »Trash« und »Camp« sind für Frank Illing »Stichworte des schlechten Geschmacks«. Illing ist kein Semiotiker, sondern Soziologe. Um »Text«-Botschaften geht es in »Kitsch, Kommerz, Kult. Soziologie des schlechten Geschmacks« deshalb nur am Rande. Das Buch basiert auf zwei Hochschulseminaren zum Thema. Damit mag zusammenhängen, dass wir es hier mit keiner stringenten, auf einem »star­ken« eigenen Konzept beruhenden Studie zu tun haben, aber immerhin mit einer gut leser­lichen akademischen Einführung.

Sie beginnt mit den historischen Voraussetzungen heutiger Geschmacksdiskurse, widmet sich kursorisch Kants »Kritik der Urteilskraft«, der Romantik und ihrer Ästhetik jenseits des Wahren, Guten und Schönen sowie der daraus hervorgegangenen Ethik des Ästhetizismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die Positionen Theodor W. Adornos, Pierre Bourdieus und die der Subkultursoziologie der Cultural Studies. Illing beginnt mit einem soziologischen Allgemeinplatz: »Geschmack ist sozial, räumlich, zeitlich bedingt. Was ›guter‹, was ›schlechter‹ Geschmack ist, hängt davon ab, von welchem so definierten Punkt aus andere Geschmäcker beurteilt werden.« Und mit dem Kollegen Gerhard Schulze ergänzt er: »So­ziologisch gesehen sind solche Urteile von einer ›Struktur gegenseitigen Nichtverstehens‹ geprägt, die sich gerade in Diskussionen über Alltagsästhetik niederschlägt – wenn man sich nicht an das Sprichwort hält, dass sich über Geschmack eben nicht streiten lässt.«

Doch gestritten wird oft über Ge­schmacks­fragen. Aber wird tatsächlich immer so wenig verstanden, wie Illing und Schulze meinen? Mag sein, dass die Oma vom Lande beim Techno-Konsum des metropolitanen Enkels nicht mehr mitkommt; doch vielleicht könnte man sogar der Oma Geschichte, Sinn und Struktur dieser Musik auf eine Art erklären, die ihr vermutlich nicht mal böse gemeintes Kopfschütteln beenden wür­de.

Beim Konflikt über unterschiedliche Geschmäcker geht es selten um den Geschmack allein. Und das gegenseitige Unverständnis sitzt häufig einem Wollen auf, das sich zu einem Großteil aus Idiosyn­kra­sien speist. Womit wir bei Adorno wären und seiner legendären Abneigung gegen Jazz, massenkulturell zugerichtet oder nicht. Ohne dass ich die anspruchsvollen dialektischen Denkfiguren aus Adornos ästhetischer Theorie oder der »Dialektik der Aufklärung« im Hinblick auf Fragen des Geschmacks auch nur ansatzweise skiz­zieren könnte – Illing ist in dieser Beziehung ziemlich gründlich –, hält der Autor Adornos Wahrheitsanspruch an die Kunst zu Recht für überzogen und attestiert ihm eine gewisse selbstreflexive Blindheit, insofern der kritische Theoretiker meinte, nur eine der Hochkultur adäquate Bildung erlaube überhaupt, einen Geschmack zu entwickeln, der gegen die verhassten Massenkultursurrogate immun sei.

Als soziologisch leistungsfähiger und zeit­gemäßer erscheinen Illing Bourdieus umfangreiche empirisch-theoretische Studie »Die feinen Unterschiede« und die Subkulturforschung der angloamerikanischen Cultural Studies. Bei Bourdieu ist Geschmack bekanntlich eine Praxis zur Generierung von Unterschieden zwischen den verschiedenen sozialen Klassen, aber auch eine, anhand deren Identität erst hergestellt wird. Dabei rekrutiert sich der jeweilige Geschmack aus einem klassenspezifischen Habitus, der sich primär einer durch familiären Hintergrund gegebenen Verteilung von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital verdankt.

Auch Bourdieus Theorie der Praxis, kri­tisiert Illing, sei nicht völlig frei von einem gewissen Elitarismus, wenn sie jede Geschmacksbildung an das Hochkulturschema konstitutiv und fraglos rückgebunden sieht. Und es stimmt ja auch: Sie verkennt schlicht, wie etwa in verschiedenen Subkulturen andere ästhetische Wertordungen entstehen, für die das Hochkulturschema kaum oder gar nicht wichtig ist.

Dies ist eine Stoßrichtung der Cultural Studies, denen wir die nicht unumstrittene Einsicht verdanken, dass gerade im vergnüglichen Konsum von Massenkultur Potenziale für Widerstand stecken, da dieser Konsum, nicht zuletzt durch Umcodierungen des Materials, zu eigensinnigen Selbst­ermächtigungen beitragen kann. In diese Kategorie gehören die Phänomene »Camp« und »Trash« – Kitsch, das in der Vergangenheit am stärksten analysierte Etikett »schlechten Geschmacks«, eher nicht.

Mit Umberto Eco teilt Illing die Ansicht, dass Kitsch mechanisch Effekte beim Rezipienten abrufe. Die sehnsuchtsvoll in den Himmel schauende Putte mit dem süßen Kleinkindgesicht ist ein typisches Beispiel für religiösen Kitsch. Wenn es stimmt, dass der Einsatz wirkungsästhetischer Mittel immer dann zum Kitsch wird, wenn er zu Formeln erstarrt, wäre zumindest zu fragen, weshalb wir etwa musikalisch geklonte Mainstream-Rockbands nicht als kitschig empfinden. So wie Illing Kitsch definiert, kann alles zu Kitsch werden; das ist aber, gemessen an typischen Alltagsbeschreibungen, nicht der Fall.

Leicht zu teilen ist hingegen Illings Ansicht, der Begriff »Kult« hätte ob seines inflationären Gebrauchs heute beinahe jede Bedeutung eingebüßt. Auch der Ansicht des Autors, die ursprünglich ästhetisch abwertend gemeinte Verwendung des Wor­tes »kommerziell« sei beinahe obsolet geworden, muss man nicht widersprechen.

Unter »Camp« versteht Illing, darin Susan Sontag und ihrem berühmten Aufsatz »Notes on Camp« (1964) folgend, ein spezielles ästhetizistisches Geschmacksmuster urbaner Gruppen. Der Camp-Geschmack schätze insbesondere »Theatralik, Pathos, Übertreibung, Eleganz, Extravaganz, Stilisierung, Phantasie und Spielerisches« sowie die »über­mäßig authentische Darstellung des Künst­lichen« bzw. »die übermäßig künstliche Darstellung des Authentischen«. Sontag nannte Camp »Dan­dyismus im Zeitalter der Massenkultur«, und für Illing steht Camp »am Beginn aller ästhetischen Distinktionsmuster, die den ›guten schlechten Geschmack‹ kultivierten«.

Möchte man nun »Trash« als Geschmacksrichtung fassen, bedürfe es, anders als beim Kitsch, von Beginn an einer selbstreflexiven Komponente: »Man mag etwas, weil es Müll ist, weil es billig und einfach gemacht ist.« Dass die Fabrikation vieler Trash-Produkte in der Vergangenheit nicht nur damit zu tun hatte, dass ihre Produzenten über wenig Geld verfügten (deshalb fahren Russ Meyers Vergewaltiger Mopeds und keine Motorräder), sondern eine gewisse Freude an gesellschaftlich geächteten Sujets (Sex, Gewalt, Horror) und damit einhergehenden Tabubrüchen ebenso ausschlaggebend für die Trash-Produktion war, macht etwa aus Andy-Warhol-B-Filmstreifen allerdings noch keine bemerkenswerte Kunst. Und Meyers »Motor Psycho« bleibt, was er immer schon war: sexistischer Müll.

Frank Illing: Kitsch, Kommerz und Kult. Soziologie des schlechten Geschmacks. UVK, Konstanz 2006, 239 Seiten, 17,90 Euro