Hinein ins Handgemenge!

Warum die Proteste gegen den G8-Gipfel ihren Ausgang in konkreten Auseinandersetzungen wie dem Kampf für Ernährungssouveränität nehmen müssen. von gregor samsa

Allen Unkenrufen zum Trotz, eines dürfte die an dieser Stelle geführte Debatte hinlänglich deutlich gemacht haben: Es gibt sehr wohl eine Vielzahl an Gründen, den offiziellen G 8-Zirkus nicht leichtfertig vorbeiziehen zu lassen, sondern als öffentlichkeitswirksame Chance zur politischen Selbstverständigung, ja Frischzellenkur zu begreifen. Denn die einschlägigen, zu Beginn der Debatte vornehmlich von Stephan Weiland (Jungle World 03/07) heftig ventilierten Kritikfiguren wie »struktureller Antisemitismus«, »verkürzte Kapitalismusanalyse« oder »nationalprotektionistische Sozialstaatsromantik« taugen zur Abgrenzung nicht wirklich. Sie sind schon lange fester Bestandteil globalisierungskritischer Diskurse, darauf haben insbesondere Petra Fischer und Sabine Beck (04/07 bzw. 12/07) aufmerksam gemacht. Es führt mit anderen Worten kaum ein Weg am viel zitierten Handgemenge vorbei, jedenfalls für alle, die sich dem Projekt emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung weiterhin verpflichtet fühlen.

Je stärker die Debatte in konkrete, praktischer Intervention verpflichtete Bahnen geraten ist, desto ungeschminkter sind ihre eklatanten Schwachstellen zu Tage getreten: Nicht nur alltägliche Kämpfe werden in der Mehrzahl der Beiträge ausgeblendet; auch Perspektiven des Südens finden allenfalls am Rande Erwähnung. Das verleiht dem Ganzen einen seltsam entrückten, ja gespensterhaften Charakter – nirgendwo wird dies offenkundiger als bei Mario Möllers Tiraden gegen den geplanten Aktionstag »Globale Landwirschaft« (08/07) – doch dazu später.

In der bisherigen Debatte ist es einzig Sandro Mezzadra gewesen, der sich erklärtermaßen dafür stark macht (07/07), im Zuge globalisierungskritischer (Anti-G8-)Proteste »nicht von einer allgemeinen Kritik der kapitalistischen Globalisierung« auszugehen, »sondern von spezifischen Kämpfen, die von lebendigen Subjekten in ihrer alltäglichen Praxis ausgetragen werden«. Das Gros der Debattenteilnehmer und -teilnehmerinnen scheint hingegen mit solcherart Auseinandersetzungen nicht sonderlich viel am Hut zu haben. Konkrete Forderungen tauchen kaum auf, allenfalls kursorisch wird der Versuch unternommen, den punktuellen und hochgradig symbolischen G 8-Protest mit konkreten Alltagskämpfen kurzzuschließen und dies mit der weitergehenden Frage zu verbinden, ob und wie es überhaupt gelingen kann, die Vielfältigkeit der Kämpfe auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Selbst ein Kreuzberger Haudegen wie John Doe (09/07), der fulminant als Tiger startet und von der »Wut über die Verhältnisse« spricht, landet unversehens als seminaristisch angehauchter Bettvorleger, jedenfalls scheint sich seine Vision in Sachen G8-Proteste darin zu erschöpfen, in der direkten Auseinandersetzung »mit den Dummbatzen der No-Globals« – gemeint sind attac & Co. – »die Qualität der Kritik zu verbessern«.

Bemerkenswert ist, dass alltägliche Kämpfe sogar dort ins Hintertreffen geraten, wo praktische Bündnisarbeit zum ureigensten Anliegen erklärt wird. Gerda Maler etwa (11/07) begreift die Proteste als willkommene Chance, um »über den G 8-Gipfel hinaus stabile Bündnisse zu schließen«. Als Beteiligte solcher Bündnisse werden jedoch nicht – um nur einige Beispiele zu nennen – Flüchtlingsaktivisten, linke Opel-Gewerkschafter oder Mitglieder von Erwerbsloseninitiativen genannt, d.h. Repräsentanten und Repräsentantinnen konkreter Kämpfe, vielmehr ist von NGO, Linksradikalen und Linkspartei die Rede. Mehr oder minder ungewollt reproduziert Gerda Maler auf diese Weise die von ihr selbst kritisierte Schmalspurmentalität linker bzw. linksradikaler Bündnispolitik. Demgegenüber ist festzuhalten, dass Verschiebungen im gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnis einzig unter der Voraussetzung zustande kommen, dass eine Vielzahl an Menschen beginnt, ihre Angelegenheiten selbstbestimmt in die Hand zu nehmen – im Stadtteil genauso wie in der Schule, im Flüchtlingslager, auf dem Arbeitsamt oder im Betrieb. Ob und in welchem Ausmaß dies tatsächlich stattfindet, hat nicht zuletzt mit der Bereitschaft der bewegungspolitisch organisierten Linken zu tun, sich offensiv und ohne Avantgardeanspruch auf gesellschaftliche Prozesse bzw. Kämpfe jenseits der eigenen vier Wände einzulassen.

Nicht nur die hiesigen, auch die Gewaltverhältnisse im globalen Süden sind lediglich bruchstückhaft in die bisherige Debatte eingeflossen. Politisch stark umkämpfte Felder wie zum Beispiel Verschuldung, Freihandelspolitik, Zugang zu Wasser oder Patentierung von Medikamenten finden in den allermeisten Beiträgen noch nicht einmal Erwähnung. Derlei Indifferenz gegen­über den Verwerfungen kapitalistischer Globalisierung mag zwar bizarr anmuten – insbesondere im Lichte der bevorstehenden G 8-Proteste –, ist jedoch nicht weiter verwunderlich. Sie ist vielmehr Ausdruck davon, dass die (radikale) Linke bereits im Laufe der neunziger Jahre ihre politischen und persönlichen Verbindungen zu sozialen Bewegungen im globalen Süden weitgehend gekappt hat – und das mit durchaus gravierenden Konsequenzen, wie an Mario Möllers Beitrag unschwer abzulesen ist.

Stein des Anstoßes ist für ihn das Recht auf Ernährungssouveränität. Die Forderung stammt ursprünglich von »via campesina«, einem weltweiten Zusammenschluss von Kleinbauern und -bäuerinnen, Landarbeitern und Landlosen mit rund 200 Millionen Mitgliedern. Im Kern wird von ihnen das Recht propagiert, Nahrung in bäuerlicher, d.h. nicht-industrialisierter Produktion herstellen zu können, und somit das Recht, über die hierfür erforderlichen Produktionsmittel zu verfügen, insbesondere Land, Wasser und Saatgut. Für Mario Möller stellt hingegen Ernährungssouveränität eine antizivilisatorische Drohung mit faschistischem Unterton dar. Denn mit ihr würde einer Subsistenzwirtschaft das Wort geredet, »die gerade mal das Überleben in Bescheidenheit sichern soll«. Demgegenüber sei die durch den modernen Kapitalis­mus in Gang gesetzte Industrialisierung der Landwirtschaft vorbehaltlos gutzuheißen, erst sie ermögliche die »Flucht aus dem Dorf in die Stadt« und somit »jenen Zivilisationsprozess (…), der die Bedingung der Möglichkeit eines besseren Lebens beinhaltet« – unbeschadet dessen, dass die endgültige Realisierung bürgerlicher Glücksversprechen erst im Kommunis­mus vollzogen werden könne.

So überspitzt Mario Möllers Ausfüh­rungen daherkommen, sie artikulieren Vorbehalte, die in abgeschwäch­ter Form etliche Linke in Sachen Land­wirtschaft umtreiben – eine Auseinandersetzung ist deshalb dringend erforderlich.

Erstens: Weltweit findet eine systematische Zerschlagung kleinbäuerlicher Existenzgrundlagen statt, ob durch subventioniertes Dumping­gemüse aus der EU, Landvertreibungen im Zuge von Sojaanbau oder sinkende Weltmarktpreise für Kaffee, Baumwolle usw., um nur einige Beispiele zu nennen. Die Folgen sind desaströs: Von den 30 Millionen Menschen, die jährlich an den Folgen von Hunger und Unterernährung sterben, sind etwa 80 Prozent Kleinbauern und -bäuerinnen, Fischer und Landlose. Es ist mit anderen Worten grotesk, die Forderung nach Ernährungssouveränität als eine regressiv motivierte Entscheidung zugunsten freiwilliger Selbstbeschränkung zu denunzieren. Das Konzept des ungehinderten Zugangs zu Land, Wasser und Saatgut ist vielmehr die politische Antwort auf eine hochgradig prekäre, immer wieder tödliche Krisensituation.

Zweitens: Dass »via campesina« die kleinbäuerliche Landwirtschaft zum Gebot der Stunde erklärt, ist kein Zufall. Denn der von Mario Möller behauptete Zusammenhang zwischen Stadt und persönlicher Entwicklung existiert im globalen Süden schon lange nicht mehr. Endstation für Landflüchtlinge sind vielmehr die riesigen Slum-Cities, in denen derzeit knapp eine Milliarde Menschen weltweit leben. Hierauf hat in jüngerer Zeit vor allem Mike Davis aufmerksam gemacht, nicht zuletzt unter Verweis darauf, dass »die vom IWF (und mitt­lerweile von der WTO) durchgesetzte Politik einer Deregulierung der Landwirtschaft und ›Entbäuerlichung‹ die Abwanderung von überflüssigen landwirtschaftlichen Arbeitskräften in städtische Slums selbst dann noch beschleunigte, als die Städte aufhörten, ›Jobmaschinen‹ zu sein«. Vor diesem Hintergrund kann es nicht erstaunen, dass städtische Räume heute zu den wichtigsten Orten bäuerlicher Bewegungen zählen.

Drittens: Der sowohl progressive als auch offensive Charakter des Konzepts von Ernährungssouveränität sollte nicht aus dem Blick geraten. Denn in Frage gestellt wird nicht weniger als die herrschenden Eigentums- und Verteilungsverhältnisse. Unstrittig ist hingegen, dass hiermit noch lange nicht geklärt ist – und auch gar nicht sein soll –, ob und welche »Entwicklungen« in den immer noch überwiegend agrarisch geprägten Gesellschaften des globalen Südens auf den Weg zu bringen sind.

Viertens: Mario Möllers Glorifizierung industrialisierter Landwirtschaft verkennt den herrschaftsförmigen, mithin destruktiven Charakter kapitalistischer Technologie in Gänze. Denn so sinnvoll die Mechanisierung landwirtschaftlicher Arbeitsabläufe durch Traktoren, Melkmaschinen u.ä. ist, so wenig kann Zweifel daran bestehen, dass Pestizide, Kunstdünger, Hybridsaatgut, Monokulturen, Massentierhaltung etc. Böden, Wasser und Klima unwiederbringlich zerstören.

Die Debatte um Ernährungssouveränität macht deutlich, inwieweit die eigentliche Bedeutung der kommenden Gipfel-Proteste darin besteht, eine Plattform zu schaffen, auf der sich die unterschiedlichen Strömungen der globalen Multitude öffentlichkeitswirksam begegnen und über gemeinsame Perspektiven verständigen können. Umso bedauerlicher ist es, dass Repräsentanten und Repräsentantinnen konkreter, im Alltag verankerter Kämpfe eher schwach vertreten sind. Die in dieser Zeitung geführte Debatte ist also durchaus ein Spiegel des realen Bewegungsgeschehens.

Gregor Samsa ist im Nolager-Netzwerk und im Aktionsnetzwerk Globale Landwirtschaft aktiv.