Der große Integrator

Die Proteste in Argentinien richten sich vor allem gegen den rechten Provinzpolitiker Sobisch. Präsident Kirchner profiliert sich einmal mehr als Menschenrechtler. von jessica zeller

Es sieht nicht gut aus für Jorge Sobisch. Seit am Mittwoch vor Ostern der Lehrer Carlos Fuente­alba bei einer Straßenblockade von der Provinzpolizei gezielt erschossen wurde, gibt es keine Ruhe für den Gouverneur des südlichen Bundesstaats Neuquén, der als »geistiger Brandstifter« gilt und für den Todesschuss verantwortlich gemacht wird. Kein Wunder, hatte der Landesfürst doch die Forderungen der Pädagogen nach mehr Gehalt als unrechtmäßig zurückgewiesen und ihre seit März anhaltenden Proteste kriminalisiert. Von diesem arroganten Verhalten hat er sich bis heute nicht dis­tanziert, im Gegenteil. Sobisch wird nicht müde, weiterhin hartnäckig von einem »Unfall« zu sprechen und auf dem Recht der Bürger auf »freie Zufahrtsstraßen« zu insistieren.

Fast täglich gibt es nun Aktionen von mehreren tausend Menschen gegen die staatliche Repression und für seinen Rücktritt. Mal demonstrieren sie direkt vor dem Regierungsgebäude, mal vor der Vertretung des Bundesstaats Neuquén in Buenos Aires, und häufig nimmt der Protest die Form von piquetes an: Die zentralen Verkehrsachsen der Provinz werden blockiert.

Dabei sind es längst nicht nur die Lehrer, die auf die Straße gehen, sondern auch Gewerkschafter aus anderen Branchen, die Beschäftigten der staatlichen Krankenhäuser und Universitäten, oppositionelle Politiker und Aktivisten der sozialen Bewegungen. In dieser Woche soll in Neuquén ein weiterer Generalstreik stattfinden. An dem Ausstand in der vergangenen Woche hatten den Gewerkschaftsangaben zufolge rund 350 000 Staatsbedienstete teilgenommen.

Die gesellschaftlichen Proteste könnte Sobisch möglicherweise mit materiellen Zugeständnissen beenden. Doch auch viele Verbündete und Unterstützer distanzieren sich nun von ihm, und das könnte sein politisches Ende sein. Denn mit getöteten Demonstranten, so viel steht fest, erwirbt sich auch die argen­tinische Rechte 24 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur keine Sympathien. Wenige Stunden nach den gewaltsamen Vorfällen gab es bereits Kritik von engen Mitarbeitern Sobischs, und es dauerte nicht lange, da bestritten auch seine politischen Unterstützer auf Landesebene, der rechtskonservative Multimillionär Maurizio Macri und der altgediente Wirtschaftsliberale Ricardo López Murphy, jegliche politische Verbundenheit mit ihm.

Schien es bis zu dem Mord an Fuentealba noch mög­lich, dass der streitbare Gouverneur als Kandidat einer vereinten Rechten in den argentinischen Präsidentschaftswahlkampf zieht, ist nunmehr nichts unwahrscheinlicher als das. »Dieser Wahlkampf ist beendet, bevor er überhaupt angefangen hat«, lautet das eindeutige Urteil des argentinischen Journalisten David Cufré.

Doch auch ohne den Fall Sobisch, der als eine Anek­dote mehr in die Geschichte rückständiger argentinischer Provinzfürsten eingehen wird, ist klar, dass gegen den amtierenden Präsidenten Nestór Kirchner keine noch so einträchtige Opposition bei den Wahlen im Oktober eine Chance hat. Das gilt für die Rechte, die meint, entweder mit der »harten Hand« gegenüber sozialen Protesten oder mit den wirtschaftsliberalen Konzepten der neunziger Jahre überzeugen zu können, für die bürgerliche Mitte, die mit dem ehemaligen Wirtschaftsminister Roberto Lavagna an der Spitze in den Wahlkampf zieht, und erst recht für linke Kritiker, die sich im Zuge der Proteste von 2001 artikulierten und heute gesellschaftlich kaum noch von Bedeutung sind.

Denn in Argentinien herrscht seit dem Amtsantritt Kirchners im Mai 2003 über alle politischen Fraktionen hinweg ein geradezu verdächtig wirkender Konsens. »Kirchner hat eine vielfältige An­hängerschaft, bei der eigentlich nur die ex­treme Rechte und die traditionelle Parteilinke außen vor bleiben. Mehr als die Hälf­te der Bevölkerung steht hinter ihm«, meint der argentinische Historiker Fernando Ló­pez Trujillo.

Kirchner verdankt seine Popularität zum Teil dem anhaltenden Wirtschaftswachstum, das vor allem durch eine künstl­ich unterbewertete Landeswährung und die enorme Fleisch- und Sojanach­frage aus China gefördert wird. Er gilt als Menschen­rechtler, mit dem sich vor allem die linksliberale Mittelschicht identifiziert, und wurde diesem Ruf auch gegenüber Sobisch gerecht, indem er dessen Verhalten harsch kritisierte und die Proteste begrüßte. Nicht zuletzt verleiht der Macht­apparat der regierenden peronistischen Partei (PJ) Kirchner landesweit Legitimität.

»Kirchners Reorganisation der peronistischen Partei wird, vermutlich für lange Zeit, jede Chance für eine Linke beseitigen, und zwar aufgrund seiner überragenden Rolle und der Stärke der bürokratischen, oft auch korrupten, auf einen Caudillo fixier­ten Maschinerie der peronistischen Partei«, sagte die argentinische Kultursoziologin Beatriz Sarlo gegen­über dem Deutschlandfunk.

Mit anderen Worten: Was mit politischen Maßnahmen nicht gelingt, wie etwa die Bekämpfung der strukturellen Armut und der Arbeitslosigkeit, wird mit klientelistisch ausgerichteten Sozialplänen und der Verteilung von Posten erkauft. Viele ehemalige Sozialaktivisten sind heute Staatsbedienstete, und in der einst mächtigen Arbeitslosenbewegung gibt es nur noch wenige, die gegen den Präsidenten wettern. Zudem werden, inArgentinien nicht ganz unbedeutend, nicht nur linke Publizisten mit teuren Anzeigen der Regierung bei der Stange gehalten.

Kirchner ist ein Beispiel dafür, wie linke Regierungen in der Praxis funktionieren. Die Sobischs dieser Welt könnten von ihm noch einiges über erfolgreichen Machterhalt lernen. Denn trotz der wichtiger symbolischer Maßnahmen wie etwa Prozesse gegen ehemalige Mi­litärs oder einer öffentlichen Kritik am Internationalen Währungsfonds wird doch schnell klar, dass sich an den ökonomischen und sozia­len Strukturen in der Gesellschaft kaum etwas ändert. Oppositionelle zu integrieren, ist eine elegantere Methode der Herrschaftssicherung, als sie erschießen zu lassen.

Damit sich diese Situation so schnell nicht ändert, bereitet Kirchner derzeit einen neuen Streich vor. In Argentinien ist nur eine einmalige Wiederwahl des amtierenden Präsidenten erlaubt. Es gilt deswegen als ausgemacht, dass im Oktober nicht der Präsident, sondern seine Frau Cristina Fernández als Kandidatin antritt. »Spätestens wenn die Umfragewerte deutlich zeigen, dass auch die Ehefrau im ersten Wahlgang siegen könnte, wird das offiziell«, sagt David Cufré. Nestór Kirchner könnte dann erneut im Jahr 2011 antreten, danach wieder seine Frau. Wenn alles gut läuft für das Ehepaar, könnte die Ära Kirchner noch viele Jahre dauern.