Ist noch alles klar?

Die Jungle World dokumentiert eine Antwort auf Stefan Wirners Beitrag über Christian Klar und die RAF.

Manche Texte sagen mehr über ihren Autor als über das Thema, das sie behandeln. Dies gilt auch für Stefan Wirners Artikel »Nichts gerafft« (Jungle World 10/07), in dem der Redakteur seine gesamte Energie darauf verwendet, Christian Klar, einen Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion, abzuwatschen. Hat der Mann nichts Besseres zu tun? Was treibt ihn überhaupt dazu – in einem Land, das überall in der Welt Krieg führt, in dem Ausbilder der Bundeswehr ih­re Untergebenen auffordern, sich vorzustellen, sie ballerten auf »Afroamerikaner in der Bronx«, in dem faschistische Massenmörder bis ins biblische Alter Pensionen verzehren und Ministerpräsidenten alte Nazis zu Wider­standskämpfern verklären? Die Antwort ist denkbar einfach: Wirner geht es um eine Generalabrechnung mit der RAF, die das Ziel verfolgt, revolutionäre Gewalt an sich zu delegitimieren.

Da aber die RAF bereits seit zehn Jahren für Kontroversen nicht mehr zur Verfügung steht, nimmt sich Wirner zunächst stellvertretend einen der letzten verbliebenen Gefangenen aus ihren Reihen zur Brust. Für den hatten sich zuletzt nur noch seine Freunde und Anwälte sowie der inzwischen verstorbene Günter Gaus interessiert. Dann aber wurde publik, dass Klar weiterhin gedenkt, von seinen verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch zu machen und sich politisch zu äußern. Die Bild-Zeitung, der Beckstein und viele andere gerieten daraufhin mächtig in Rage und forderten mehr oder min­der unverhohlen, Christian Klar bis ans Ende seiner Tage im Knast verschimmeln zu lassen. Will Wirner das auch, wenn er schreibt: »Wer pathetische Grußbotschaften schreibt und andere als ›Meinungsblockwarte‹ bezeichnet, muss mit einer Antwort rechnen.«

Als ob Klar nicht wüsste, unter welchen Bedingungen er die letzten 24 Jahre verbracht hat, gibt Wirner ihm wohlfeile Ratschläge: »Ob es so schlau war, ein Gnadengesuch an den Bundespräsidenten zu stellen, dann aber in einem Brief zu fordern, die ›abstürzenden großen Ge­sellschaftsbereiche den chauvinistischen Rettern‹ zu entreißen, ist fraglich. Ist Horst Köhler als ehemaliger Präsident des Internationalen Währungsfonds nicht auch einer jener ›chauvinistischen Retter‹? Hat niemand Klar den Tipp gegeben, dass man besser den Mund hält, wenn man ein Gnadengesuch stellt?« Die Verteidigung der Meinungsfreiheit ist des Redakteurs Sache nicht, er empfiehlt, zu Kreuze zu kriechen.

Implizit fordert Wirner von Klar genau das, was Justiz, Politik und Medien seit Jahren explizit von ihm verlangen: Einsicht in den ver­breche­rischen Charakter seines Handelns und so genannte tätige Reue, also Verrat an den ehe­maligen Mitkämpfern und der eigenen Person. Dass Klar unter diesen Prämissen nicht zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bereit ist, erzürnt Wirner und lässt ihn an dessen Geisteszustand zweifeln: Klars »beklommen machendes Schreiben« an die Rosa-Luxemburg-Konferenz zeige, so der Redakteur, »dass die Informationslage in deutschen Gefängnissen schlecht« sei und dass »eine lange Haft auch nicht schlauer« mache. Klar sei lediglich dazu fähig, den »üblichen Antiimp-Quatsch« respektive das »gewohnte antiimperialistische Kauderwelsch« abzusondern und »mime« daher für »regressiv-antikapitalistische Gruppen« die »Stimme aus dem Knast«. Der ehemalige Aktivist der RAF erscheint als verbohrt, uneinsichtig, vor allem aber als geistig zurückgeblieben; als einer, der sich so verhält, »als wäre 30 Jahre lang nichts passiert auf der Welt«. Zur Psychiatrisierung des unbotmäßigen Gefangenen ist es von hier nur noch ein kleiner Schritt.

Und Wirner geht es, wie gesagt, um mehr, nämlich um die Denunziation der RAF als dog­matische, antiamerikanische, antisemitische und patriotische Terrorbande. Zu diesem Zweck greift er schon einmal in die journalistische Trickkiste. Da er der RAF keinen gegen Israel oder jüdische Menschen gerichteten Anschlag anhängen kann, spricht er von der »Ver­stri­ckung eines RAF-Mitglieds in einen Anschlag auf jüdische Auswanderer in Ungarn im Jahr 1991«. Warum nicht gleich von der »schuldhaften Ver­strickung«? Die ist bei Historikern vom Schlage eines Guido Knopp beliebt, wenn es darum geht, NS-Massenmörder nicht als solche bezeichnen zu müssen.

Führt Christian Klar Wirners Auffassung zufolge einen »Kampf gegen die Sprache«, so kämpft Wirner mit ihr gegen die RAF im Allgemeinen und Christian Klar im Besonderen. Dass die bedingungslose Solidarität mit den Palästinensern, die von großen Teilen der radikalen Linken der siebziger und achtziger Jahre praktiziert wurde und bis zur Ablehnung des Existenzrechts Israels reichte, einer umfassenden Kri­tik zu unterziehen ist, steht außer Fra­ge. Nur hat sich diese Kritik eben an die gesam­te radikale Linke zu ­richten. Watschen­männer zu konstruieren, mag zwar einem verständ­lichen emotionalen Bedürf­nis geschuldet sein, führt jedoch politisch nicht weiter.

Um beim Leser Abscheu über die Aktionen der RAF hervorzurufen, argumentiert Wirner auch an anderen Stellen ungenau. Besonders gut geeignet, um die RAF als skrupellose Killer­truppe vorzuführen, erscheint ihm der »Mord an dem 20jährigen US-amerikanischen Soldaten Edward Pimental, der 1985 in Wiesbaden aus einer Kneipe gelockt und mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet wurde«.

Inge Viett, ein ehemaliges Mitglied der Bewegung 2. Juni und der RAF, hatte sich darüber beklagt, dass es »immer schwieriger« werde, »die Geschichte des antifaschistischen Widerstands und unsere nachfolgende Widerstandsgeschichte der herrschenden Denunzierung und dem Verrat zu entreißen«, worauf Wirner fragt, was denn der Mord an Pimental mit dem antifaschistischen Widerstand der dreißiger Jahre zu tun habe.

Dass dieser Anschlag höchst kritikwürdig ist, steht außer Zweifel. »Die Erschießung des GI Edward Pimental war eine der schlimmsten Fehlentschei­dungen der RAF. Ich denke, dass das, was damals abgelaufen ist – einen einfachen US-Soldaten zu erschießen, um an dessen Ausweis zu kommen –, in keiner Weise mit revolutionärer Mo­ral und Utopien von einer menschlichen Gesellschaft vereinbar ist.« Allerdings schadet es nicht zu wissen, dass es Birgit Hogefeld war – die im Gegensatz zu Viett zum Zeitpunkt des Anschlages zu den RAF-Kämpfern in der Illegalität gehörte –, die diese Einschätzung im März 1995 in einer Prozesserklärung formulierte. Auch andere ehemalige Mitglieder der RAF haben sich in den vergangenen Jahren selbstkritisch dazu geäußert. Wirner ignoriert das. Weil Viett nicht über den Mord an Pimental spricht, tut er so, als hätte es eine solche Selbstkritik nie­mals gegeben.

Abgesehen davon aber hat Viett Recht, wenn sie ein geschichtspolitisches Rollback konstatiert, dessen Pro­tagonisten sich eben nicht darum scheren, welche Taten mit einer eman­­zipatorischen Moral zu vereinbaren sind und welche nicht, weil sie schon den Gedanken an Widerstand die Berechtigung absprechen. Wirner scheint dieser Diskurs völlig entgangen zu sein. Aber an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Thesen einer ehemaligen Militanten, die sich auch nach ihrem Ausstieg aus der RAF weiterhin als »Aktivistin gegen Ausbeutung und imperialistische Kriege« ver­stand, ist er auch nicht interessiert. Er hat nur auf eine passende Gelegenheit hingearbeitet, endlich die Katze aus dem Sack zu lassen: Klar wie Viett, die sich Wirner zufolge »nach wie vor als Kämpfer für eine Welt, in der ›die Gespenster der Entfremdung von des Menschen gesellschaftlicher Bestimmung vertrieben sind‹« sähen und ihre Geschichte als Versuch der »Antizipation eines anderen Lebensentwurfs« verstünden, müssten sich endlich damit auseinandersetzen, »dass zur Verwirklichung dieses Lebensentwurfes auch getötet wurde«.

Es sei an dieser Stelle ganz klar gesagt: Zur Verwirklichung eines Lebens ohne Aus­beu­tung und Unterdrückung wurde in der Vergangenheit getötet und wird auch in Zukunft getötet werden, denn die jeweils herr­schende Klasse ist stets unter Einsatz aller ihr zur Verfügung stehenden Gewaltmittel bestrebt, ihre Macht, ihren Einfluss und ihre Privilegien gegen einen Umsturz der von ihr konstituierten Gesellschaftsordnung zu schützen. »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Un­terdrückte standen in stetem Gegensatz zu­einander, führten einen un­unter­broche­nen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionä­ren Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. (…) Das Pro­letariat, die unterste Schicht der jetzigen Ge­sellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird«, schreiben Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest.

Folgt man Wirners moralinsauren Ausführungen, erscheinen alle Revolutionäre der Weltgeschichte als Kapitalverbrecher im Sinne des Strafgesetzbuches, ganz gleich, ob es sich um die Teil­nehmer an Sklavenaufständen und Bauernkriegen, das revolutionäre französische Bürgertum von 1789, die Pariser Kommunarden von 1871, die russischen Bolschewiki oder die Teilnehmer an Maos »Langem Marsch« handelt. Sie alle haben gemordet, geplündert, gebrandschatzt und gestohlen – aus guten Gründen. Und weil sie gute Gründe hat­ten, sind sie auch nur politisch zu kritisieren, wie es beispielsweise Engels im Falle der Pariser Kommune getan hat: Nicht die Erschießung internierter Kon­terrevolutionäre durch die Kommunarden war sein Problem, sondern die Unzulänglichkeit der Aktion. Er hielt den Revolutionären vor, dass die von ihnen unterlassene Enteignung der französischen Nationalbank »mehr wert« gewesen wäre »als zehntausend Geiseln«.

Eine kritische Diskussion über Konzepte und Strategien, Fehler und Fehleinschätzungen der RAF zu führen, ist das eine. Politische Gefangene mit Spott und Häme zu überziehen und die Legitimität revolutionärer Gewalt per se in die Tonne zu treten, das andere. Sollte das letztgenannte zur Bedingung fürs erstgenannte werden, kann die Linke endgültig einpacken.