Jeder ist ein Autonomer

Eine kurze Sozialgeschichte der Autonomen. von anton landgraf

Manchmal sieht man ihre Zeichen noch an Häuserwänden, hin und wieder fallen in Kneipen ihre Flug­blätter auf. Zumindest am 1. Mai tauchen sie, vor allem in Berlin, zuverlässig auf, auch wenn die autonome Bewegung ihre besten Zeiten längst hinter sich hat. Einen ihrer größten Erfolge feierte sie vor 20 Jahren, damals, als Bolle brannte und Kreuzberg zu einer temporären autonomen Zone wurde. Seitdem büßte sie langsam, aber sicher ihren Einfluss ein.

Diesen Niedergang kann man nur verstehen, wenn man auch die Vorgeschichte der Autonomen kennt. »Lauft Genossen, die alte Welt ist hinter euch her«, lautete eine Parole der »Spontis«, der Vorläufer der Autonomen, die in doppelter Weise zu verstehen war. Sie war gegen die normierte Gesellschaft gerichtet, gegen die Macht von Staat und Kapital. Sie war aber auch als Abgrenzung gegen die autoritäre Linke gemeint.

Gleichwohl versuchten sich auch die Spontis der frühen siebziger Jahre daran, die Proleten anzusprechen, war doch ihr Vorbild – und spätere Namensstifterin – die italienische »Autonomia«, die sich über die klassische Arbeiterbewegung hinausgehend gegen die Fabrikarbeit selbst wandte. Im Gegensatz zur ML-Bewegung verfolgten die »Spontis« oder die »Antiautoritären« ein hedonistisches Konzept. Eine Befreiung sollte nicht erst in ferner Zukunft, nach der Eroberung staatlicher Institutionen, möglich sein, sondern unmittelbar im Alltag: »Wir wollen alles, und zwar jetzt!«

Eine weitere Inspirationsquelle der Antiauto­ritären war die Kritische Theorie, die Anfang der sechziger Jahre in kleinen Zirkeln diskutiert wurde, etwa im Umfeld des Anschlags, des Organs der »Subversiven Aktion«. Diese »Rädelsführer des organisierten Ungehorsams« befassten sich mit psychoanalytischen Schriften, ließen sich von der künstlerischen Avantgarde und den Situationisten beeinflussen, studierten Marx und die von ihm ausgehenden Traditionen.

Die Macht der normierten Gesellschaft basierte ihrer Meinung nach vor allem auf Trieb­unter­drückung und Verzicht. »Die Spannung zwischen dem Selbstwert der Arbeit und der Freiheit des Genusses könnte innerhalb eines Menschenwesens nicht ertragen werden: Die Trostlosigkeit und Ungerechtigkeit der Arbeits­verhältnisse würde eklatant das Bewusstsein der Individuen durchdringen und ihre friedliche Einordnung in das gesellschaftliche System der bürgerlichen Welt unmöglich machen«, hatte Herbert Marcuse Jahre zuvor erkannt.

Dass im Deutschland jener Zeit in den Fabriken wenig zu holen war, sahen die Spontis früher als andere ein. Der »Operaismus« schrumpfte bald zu einer kleinen Strömung innerhalb der Autonomen, während der Wunsch, zumindest temporär in einer von den Zwängen der Akkumulation befreiten Zone den eigenen Bedürfnissen nachzugehen, über die radikale Minderheit hinaus anschlussfähig war.

Sie griff damit eine Kritik am Kapitalismus auf, die auch von Teilen der bürgerlichen Bohème verstanden wurde – etwa im Topos der »Entzauberung der Welt« und der fehlenden Authentizität: Demnach degradiert der Kapitalismus alles zur Ware und unterdrückt jegliche individuelle Freiheit und Kreativität. Der Ökonomisierung der Lebenswelt stellte die Bohème die »Nicht-Produktion« und die Kultur der Unmittelbarkeit als Ideale entgegen.

Aus dem Wunsch nach Authentizität entwickelten sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die »Gegenkultur« und die damit verbundenen sozialen Bewegungen. Die Autonomen verstanden sich als Avantgarde, die den Gegensatz zwischen der »subsumierten Welt« und den Zonen der Selbstbestimmung radikalisieren wollte, um schließlich die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Besonders wichtig waren für sie die Häuserkämpfe, und zwar nicht nur, weil sie in einer militanten Weise ausgetragen wurden: »Die neuen pro­jekt­bezogenen Wohngemeinschaften« seien »erste tastende Entwürfe zur sozialen Repro­duktion jenseits von der architektonisch und lohnpolitisch verhülsten Kleinfamilie … «, schrieben Detlef Hartmann und Karl-Heinz Roth in der Zeitschrift Autonomie, einem Bindeglied zwischen den Spontis der siebziger und der neuen Generation von Autonomen der achtziger Jahre. Denn »je weiter die Abstraktion in mensch­liches Handeln hineingetrieben wird, desto weniger ist das Potenzial reicher lebendiger Subjektivität in diesen Verhal­tensabläufen noch präsentiert: Sie wird zum revolutionären Potenzial. Es entsteht nur Fremdheit, Gleichgültigkeit gegenüber den primitiven Formen technologischer Gewalt.«

In der Folge entstand eine manchmal bizarr anmutende Aufteilung zwischen den Mikro­ebenen autonomer »Freiräume« und einem globalen Erklärungsanspruch. Während sie in besetzten Häusern und Wohngemeinschaften den »herrschaftsfreien« Umgang übten, fühlten sich Autonome mit brasilianischen Bauern solidarisch, die allerdings von ihrem Glück als »Nicht-Wert in der Subsistenzwirtschaft« wenig ahnten.

Anders als in unterentwickelten Ländern bestand jedoch in den Industriegesellschaften permanent das Angebot zur Integration, wie der lange Marsch ehemals revolutionärer Studenten in Institutionen, Parteien und Ämter zeigte. Da Unterdrückung, zumindest in den Metropolen, nicht mehr an »objektive Bedingungen« geknüpft war, sondern über die »lebendige Subjektivität« definiert wurde, entpuppte sich die Moral als entscheidendes Kriterium für revolutionäres Handeln. Kleidung, Auftreten und Jargon wurden zum wesentlichen Bestandteil einer autonomen Alltagskultur, die es in ihrer Rigidität problemlos mit einem jesuitischen Priesterseminar aufnehmen konnte.

Die Moral wurde umso wichtiger, da sich die Produktionsverhältnisse in einer Weise änderten, die eine Unterscheidung im Lebensstil immer schwieriger gestaltete. So entwickelte sich ein neuer kreativer Sektor, in dem sich ein unkonventioneller Lebenswandel durchaus mit einer bürgerlichen Karriere verbinden ließ. Die autonome Losung »Lebe wild und gefährlich« gehörte nun zum Lebensgefühl einer Generation von neuen Selbstständigen in der Software­branche, in Werbeagenturen oder in der Unterhaltungsindustrie. Wer keine klobigen Springerstiefel tragen wollte oder wem der Appetit auf vegane »Volxküchen« vergangen war, konnte sich aus den »politischen Zusammenhängen« lösen, ohne dabei seinen rebel­lischen Habitus aufzugeben. Und wem der neue Dandy-Kapitalismus nicht zusagte, dem halfen die staatlichen Organe nach. In Folge des »Deutschen Herbsts« wurden Tausende kriminalisiert, in den frühen neunziger Jahren die letzten besetzten Häuser geräumt.

Doch nicht nur der ideologische Über­bau veränderte sich, sondern auch die materiellen Bedingungen. Bis in die acht­ziger Jahre war es noch möglich, als »Jobber« oder mit Hilfe von staatlicher Unterstützung über die Runden zu kommen. Mit der Deregulierung des Sozialstaats und des Arbeitsmarktes wurde aus dieser oft selbst gewählten prekären Existenzweise ein massen­haftes Phänomen. In der deregulierten Gesellschaft entstanden nun überall »Freiräume«, und viele praktizierten eine »autonome« Lebensweise ohne Rentenanspruch und Sozialversicherung – allerdings ohne es zu wollen.

Paradoxerweise begann der soziale Zerfall der autonomen Bewegung zu einem Zeitpunkt, als der politische Kon­text günstig für sie war. Während für die traditionelle Linke der Zusammenbruch des Realsozialismus katastrophale Folgen nach sich zog, hatten die Autonomen damit weniger Probleme. In ihren Augen waren die stalinistischen Bürokraten nicht viel besser als ihre kapitalistischen Widersacher. Doch viel anfangen konnten sie mit diesem Vor­teil nicht mehr. Die Gegenkultur hatte sich aufgelöst in zahllose »Projekte« und »Teilbereiche«, in denen alle prekären Beschäftigungen nach­gingen. Die autonome Bewegung hat tatsächlich einige Zeit als Avantgarde funktioniert – doch die alte Welt hat sie schneller eingeholt, als sie es zu denken wagte.