Augen zu und durch!

Der Winograd-Bericht wirft der israelischen Regierung vor, im Libanon-Krieg versagt zu haben. Doch zurücktreten will vorerst keiner der Verantwortlichen. von andrea livnat, tel aviv

Ehud Olmert war müde, so müde, dass ihm vor laufenden Kameras die Augen zufielen. Seine Berater versuchten, ihn aufzumuntern, und reichten ihm Zettelchen, doch der Ministerpräsident nickte bei der Einführung des neuen Polizeichefs am Dienstag der vergangenen Woche immer wieder aufs Neue ein.

Die israelischen Fernsehzuschauer mussten nicht lange rätseln, was Olmert in der Nacht zuvor um den Schlaf gebracht hatte. Offenbar hatte er die 171 Seiten des Winograd-Berichts studiert, der ihm ein »schweres Versagen« bei der Planung und Führung des Feldzuges gegen die libanesische Hizbollah im Sommer des vergangenen Jahres bescheinigt.

Es ist in Israel üblich, dass nach einem Krieg untersucht wird, ob die Regierung, das Militär und der Geheimdienst Fehler gemacht haben, und Politiker konnten sich selbst dann zum Rücktritt gezwungen sehen, wenn sie nicht so schlecht beurteilt wurden wie Olmert im Winograd-Bericht. So kam der im April 1974 veröffentlichte Zwischenbericht des Agranat-Komitees, das sich mit dem Jom-Kippur-Krieg befasste, zu dem Schluss, dass das Militär und der Geheimdienst für die Fehler Israels verantwortlich seien, und sprach die Politiker, allen voran Ministerpräsidentin Golda Meir und Verteidigungsminister Moshe Dajan, von jeglicher Verantwortung frei. Dass Meir und Dajan dennoch zurücktraten, lag am wachsenden Druck der Öffentlichkeit.

Unter dem Vorsitz des ehemaligen Richters Eliahu Winograd stellte das Komitee in seinem Zwischenbericht fest, dass sowohl die Politiker als auch die Armeeführung versagt haben. Die Ergebnisse überraschten nicht nur die Öffentlichkeit und die Kommentatoren der Medien, sondern wohl auch Olmert.

Das Winograd-Komitee konstatiert ernsthafte Fehler bei der Vorbereitung und der Durchführung der Militäroperation, die am 12. Juli 2006 begann. Die Hauptverantwortung dafür liege bei Ministerpräsident Ehud Olmert, Verteidigungsminister Amir Peretz und dem ehemaligen Generalstabschef Dan Halutz. Die Entscheidung, mit einem sofortigen und umfassenden Militärschlag auf die Entführung zweier Soldaten durch die Hizbollah zu antworten, basierte dem Bericht zufolge nicht auf einem detaillierten, weit reichenden und autorisierten Militärplan. Eine sorgfältigere Vorbereitung hätte zu dem Schluss führen müssen, dass die Chancen, mit militärischen Mitteln bedeutende politische Ergebnisse zu erzielen, sehr gering waren. Die Verantwortlichen hätten andere Möglichkeiten jedoch nicht in Erwägung gezogen.

Olmert wird vorgeworfen, er habe vorschnelle Entscheidungen getroffen und unerreichbare Kriegsziele vorgegeben, ohne sich ausreichend von Experten auch außerhalb des Militärs beraten zu lassen. Noch härter fällt die Kritik an Verteidigungsminister Amir Peretz aus, der kaum Kenntnisse oder Erfahrungen im militärischen Bereich hatte, seine Entscheidungen ohne systematische Beratungen traf und daher weder der Armee noch dem Ministerpräsidenten in kompetenter Weise begegnen konnte.

Auch dem Generalstabschef Dan Halutz bescheinigt das Winograd-Komitee Mangel an Professionalität, Verantwortung und Urteilsvermögen. Die Armee sei auf Entführungen nicht vorbereitet gewesen, obwohl es entsprechende Warnungen gab. Nach der Entführung habe der Generalstabschef impulsiv gehandelt und die Politiker weder über die Komplexität der Lage noch über die Risiken eines Bodeneinsatzes aufgeklärt, sondern sie im Glauben gelassen, dass die Armee bereit für eine entsprechende Operation sei.

Die meisten Medien plädierten nach der Veröffentlichung des Berichts am Montag der vergangenen Woche für den Rücktritt Olmerts. Der Bericht sei ein Grabstein aus Papier für die Regierung, »Sofortiger Rücktritt«, »Ab nach Hause«, »Er muss gehen« waren die Überschriften der Tageszeitungen am nächsten Tag.

Passiert ist seitdem erstaunlich wenig. Olmert tritt nicht zurück, er denkt wohl auch nicht daran. Peretz denkt darüber nach, will aber frühestens Ende Mai das Verteidigungsministerium räumen, und auch nur, wenn er den von ihm schon immer bevorzugten Posten des Finanzministers bekommt. Außenministerin Zippi Livni forderte den Rücktritt Olmerts und wäre fast zurückgetreten, tat es dann aber doch nicht. Sie bleibt im Kabinett, obwohl sie zum Ministerpräsidenten kein Vertrauen mehr hat. Halutz ist bereits vor drei Monaten zurückgetreten und studiert derzeit in Harvard. Von dort ließ er ausrichten, dass er nichts kommentieren werde, bevor er nicht den ganzen Bericht gelesen habe. Bis dahin wird er wohl seine Fortbildung auf Staatskosten in Boston genießen.

Nur zwei Abgeordnete der Kadima, der Partei Olmerts, sahen sich in der Verantwortung und legten ihr Mandat nieder. Ansonsten hat der Winograd-Bericht niemanden zu Fall gebracht, obwohl, anders als 1974, eindeutig die Schuldigen in der Politik benannt werden.

Viele Israelis wollen sich damit nicht zufrieden geben; ob der Protest ähnliche Ausmaße annehmen wird wie vor 33 Jahren, ist jedoch schwer abzusehen. Momentan eint er Angehörige der unterschiedlichsten politischen Richtungen. So veröffentlichten beispielsweise Jossi Beilin, Vorsitzender der linken Meretz-Yachad-Partei, und Effi Eitam, Chef des nationalreligiösen rechten Mafdal, einen gemeinsamen Artikel in der Tageszeitung Maariv, in dem sie forderten, Olmert solle zurücktreten, und ankündigten, alles im demokratischen Rahmen Mögliche zu tun, um ihn dazu zu bewegen.

Am Donnerstag der vergangenen Woche protestierte ein breites Bündnis gegen die »drei Versager«. Linke und Rechte, Religiöse und Säkulare, insgesamt 150 000 Menschen forderten gemeinsam am Rabin-Platz in Tel Aviv den Rücktritt der Verantwortlichen.

Profitieren würde davon allerdings wohl vor allem Benjamin Netanyahu, der Vorsitzende des Likud. Bei Neuwahlen würden Umfragen zufolge die rechten Parteien Stimmen dazugewinnen. Der Rücktritt von Olmert und Peretz wäre moralisch richtig, doch es ist fraglich, ob eine von Netanyahu geführte Regierung unter ähnlichen Umständen umsichtiger handeln würde, und auch die letzten Chancen auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses wären dann bis auf weiteres vertan.

In der Linken gibt es dennoch fast keine Stimmen, die einen Rücktritt ablehnen. Nur Yael Paz-Melamed, eine der führenden Kolumnistinnen von Maariv, rief dazu auf, nicht zur Demonstration am Rabin-Platz zu gehen. Der Winograd-Bericht würde bald in der Schublade verschwinden, warnte sie, und alles würde so weitergehen wie bisher, nur mit dem Likud an der Spitze. Nachdem die verantwortlichen Politiker klargemacht haben, dass sie ihre Posten behalten wollen, bleibt es der israelischen Öffentlichkeit überlassen, Druck auszuüben oder dies aus taktischen Gründen nicht zu tun.