Massacre

Nach dem Amoklauf an der Virginia Tech stand die Universität im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in den USA. Unser Reporter david reed hat sich ohne Auto auf den Weg nach Virginia gemacht

16. April 2007, Baltimore

Der Tag beginnt ziemlich ruhig – Bush wird bald irgendwo eine Rede halten, und die Äther­­wellen sind voller Experten-PR, die nur dünn als »Expertenwissen« getarnt ist. Plötzlich werden die Spekulationen von atemlosen Berichten (live) unterbrochen, in denen von einer Schie­ßerei im Virginia Polytechnic Institute die Rede ist. Es ist zu früh, um Genaueres sagen zu können, aber zufälligerweise handelt es sich um die gleiche Hochschule, die vor sechs Monaten Gegenstand atemloser (Live-) Berichte über einen entlaufenen Häftling war. Ich habe die Berichterstattung damals verfolgt und beschließe, ein Schläfchen zu machen. Erst am frühen Nachmittag fahre ich meinen Computer hoch und lese die Schlagzeilen, nach denen 33 Studenten bei der Schießerei gestorben sind.

Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für die ­Be­richte, aber Mohammed (habe ich meinen Lieb­lingsmechaniker schon erwähnt?) hat mei­nen BMW schließlich doch aufgegeben, oder, um genauer zu sein, er kann es nicht ertragen, dass ich noch mehr Geld hineinstecke, um ihn am Laufen zu halten. Überfliege Gebraucht­wagen­angebote auf dem Online-Schwar­zen-Brett Craiglist, schicke »love­my­jeep« eine E-Mail wegen eines Subaru Impreza. Mir macht die Adresse ein bisschen Sorgen (warum nicht »love­my­subaru«?), aber 1 000 Dollar, was kann ich da falsch machen?

Gehe hinaus und warte auf den Bus. Es wäre schön, wenn sie den Fahrplan einhalten würden, dann könnte ich die Zeit auf ein Minimum beschränken, in der ich auf der Straße herum­stehen und zusehen muss, wie alle Welt in schicken klimatisierten Autos vorbeischwirrt, aber schließlich kommt der Bus, und ich schaffe es noch rechtzeitig zum Unterricht.

17. April, 8 Uhr

Ich suche halbwach nach der Fernbedienung, schalte den Fernseher ein. Alles geschieht so schnell. Vor ein paar Tagen noch konnte ich kaum an etwas anderes denken als an die neu­en Details und Wendungen im Fall Don Imus (ein Talkmaster, der wegen rassistischer Bemerkungen gefeuert wurde); und einen Tag später nun, wie kann man jetzt noch an Don Imus denken?

George Bush nimmt sich eine Auszeit bei dem, was immer er auch gerade tut, und fliegt zur Vir­ginia Tech, um den Angehörigen und Freun­den der Opfer zu kondolieren. Brian Williams von NBC informiert die Zuschauer (live!), dass der Präsident, was immer man sonst von ihm halten mag, gut im Kondolieren ist.

18. April

Unterrichte; rufe Lynda wegen des Subaru an. Mohammed hat angeboten, einen Blick auf das Auto zu werfen, um mir bei der Entscheidung zu helfen, und glücklicherweise kann Lynda das Auto zu ihm fahren, also treffen wir uns alle bei Mohammed. Fahre um den Block. Noch nie habe ich Bremsen so laut quietschen gehört, und der ganze Wagen duftet nach Essence de Mo­toren­öl, aber wenn Mohammed meint, dass er okay ist, ist er auch für mich okay.

Lasse den Papierkram fürs Auto für später liegen; Mohammed will erst die Bremsen reparieren, aber vorher fährt er mich noch nach Hause. Logge mich ins Internet ein. Es stellt sich heraus, dass sich der Mörder (ein koreanischer Virginier namens Seung-Hui Cho) während seines Amoklaufs die Zeit genommen hat, NBC ein Multimediapaket zu schicken. Die Fernsehnachrichten zeigen das Material praktisch nonstop, und die Nachrichtenwebsites machen alle mit Chos Fotos auf. Brian Williams ist gerade rechtzeitig nach New York zurückgekehrt und hat, so erfahren wir, das Material persönlich durchgesehen. Er wedelt mit einer Kopie in unsere Richtung und warnt uns, dass Chos Aussagen voller Schimpf­­wörter sind.

Es wird schnell geschnitten, damit kein Zuschauer versehentlich irgendwelchen anstößigen Wörtern ausgesetzt wird; der Sender zeigt weitere Fotos des Virginiers (Koreaners?), der kurz davor ist, Amok zu laufen, und eine Pistole abwechselnd auf die Kamera und auf seinen Kopf richtet. Auf einem anderen Bild hat er die Augen geschlossen und hält sich ein Messer an die Kehle.

Ich weiß, es ist nicht richtig, in so einem Moment solch schlichte Gedanken zu haben, aber ich mache mir Sorgen um meinen Fernseher. Williams’ Gesicht scheint ein bisschen rot zu sein, und als ich nach der Fernbedienung greife, frage ich mich, ob er wirklich so gut aussieht, wie ich immer dachte. (Vielleicht sind ihm all die Flüche und Schimpfwörter peinlich?) Aber er schafft es, nebenbei zu erwähnen, dass er gestern den ganzen Tag draußen in Wind und Sonne gestanden hat.

Rich ruft an. Irgendjemand musste es sagen, und Rich tut es: Er vergleicht die Zahl der Menschen, die an der Virginia Tech starben, mit der Zahl derjenigen, die am gleichen Tag im Irak gestorben sind. Natürlich, viele Leute sterben jeden Tag. Aber das macht diese Sache nicht weniger traurig. Rich weiß das – er hat damals über Columbine berichtet, woraufhin er sich dem Peace Corps anschloss und in die Ukraine zog.

19. April

Wache spät auf, suche nach Flügen. Ich hoffe, ich kann die Versuchung, in die Ukra­ine zu ziehen, unterdrücken – ich habe eine Familie, die mich auf dem Boden hält, und dazu, seit zwei Wochen, Aussicht auf einen richtigen Job. (Doch davon ein anderes Mal.)

Wie sich herausstellt, war es viel einfacher, die 1100 Meilen nach Florida zum Anna-Nicole-Verfahren (Jungle World 10/07) zu fliegen, als für diese Sache die 300 Meilen zur Virginia Tech zu bewältigen, insbesondere ohne ein eigenes an­gemeldetes und funk­tionierendes Trans­portmittel. Als ich eine praktikable Flug­route gefunden habe, ist es zu spät, um noch zu fliegen.

Die Nachricht des Tages: Die Verantwortlichen von NBC sind kritisiert worden, weil sie Chos Fotos und Video gezeigt haben. Also willigen sie ein, dem Material nur noch zehn Prozent ihrer Sendezeit zu widmen. Selbst wenn sie es auf Null reduzieren würden, weiß ich nicht, ob es möglich wäre, die Bilder von Cho wieder aus meinem Kopf zu kriegen.

20. April

Ich sage meinem Sohn Ethan, dass ich vielleicht wieder mal wegfahre. Er will mitkommen, aber dies ist kaum ein Spaß für die ganze Familie. Ich verspreche ihm, dass ich zu seinem Geburtstag am Sonntag wieder zurück bin. Früher hätte er es vielleicht nicht gemerkt, aber dieses Jahr trifft er seit Wochen Vorbereitungen, insofern als dass er schon mehrere Geburtstagskuchen und Kerzen aus Knete und Farbstiften gemacht hat. (#1) Fahre ins College. Während des Mittagessens finde ich einen Flug nach Roanoke und mache mich gleich nach dem Unterricht auf den Weg.

17.28 Uhr, Washington-Dulles-Airport

Einen Zug, zwei U-Bahnen und eine Taxifahrt später versuche ich, am United-Schalter einzuchecken. Drei Angestellte belehren mich 13 Minuten lang, dass es unmöglich ist, den Flug zu erreichen, bevor sie mir meine Papiere zurückgeben und es mich versuchen lassen. Ich erreiche das Gate zwei Minuten vor dem fahrplanmäßigen Abflug und, durch einen bemerkenswerten Zufall, genau 13 Minuten nachdem (so wird mir gesagt) die letzten Passagiere an Bord gegangen sind.

Warte vier Stunden auf das nächste Flugzeug; fliege nach Roanoke.

23.57 Uhr, Blacksburg, Virginia

Ich hatte gehofft, der CNN-Anchorman Anderson Cooper wäre noch hier, damit ich ein Autogramm für meine Kollegin Beth besorgen könnte. (Sie ist ein großer Fan von ihm.) Aber wie es aussieht, bin ich zu spät. Die CNN-Leute sind schon dabei ein­zupacken, als ich sie finde; sie sagen, er sei am Morgen nach New York geflogen.

Ich beobachte die Abfahrt des CNN-­Wagens, bevor ich zurück über das drillfield, den ehemaligen Exerzierplatz der Universität, gehe. Sogar mit­ten in der Nacht kommen Leute vorbei, um den Opfern die letzte Ehre zu erweisen; eine junge Frau geht langsam um den Halbkreis, kauert sich ins Gras und schluchzt an jedem einzelnen der Steine.

Gehe zurück zum Mietwagen, esse ein übrig gebliebenes Burrito. Betrach­te lange das glückliche Pärchen auf der Serviette (#2).

21. April, 3 Uhr

Es ist nicht so leicht, hier eine Unterkunft zu finden (wie muss es erst vor ein paar Tagen gewesen sein, als CNN mit 100 Leuten hier war?), aber nachdem ich eine Stunde herumgefahren bin, finde ich ein Zimmer im Red Car­pet Inn. Krieche ins Bett.

6 Uhr

Wache in schwachem Tageslicht auf, das sich mit dem orangefarbenen Leuchten des Parkplatzes vermischt. Fahre wieder den Hügel hinauf zur Hochschule. Für eine kurze Zeit habe ich die Kapelle und das Denkmal für den Zweiten Weltkrieg (#3) für mich, und ich nutze die Gelegenheit, um Fotos von Taschentuchschachteln (#4) und anderen Anzeichen der Trauer zu machen (#5, #6). Gehe hinüber zu einem Kamerateam, das einen Campusgeistlichen interviewen will. Zwei Minuten bevor sie auf Sendung gehen, sind die Lichter mit einem lauten »Plopp« ausgegangen, und das Team läuft aufgeregt durcheinander. Jemand findet einen Reflektor im Wagen, und eine Minute bevor ihr Beitrag angesetzt ist, sind sie wieder bereit. Eine Frau (die Produzentin?) sagt, es gibt Dinge, die man Studenten einfach nicht beibringen kann. Notiz für mich: es nächstes Jahr trotz­dem versuchen.

Ich sehe Anzeigen für einen Gottesdienst in einer örtlichen Kirche um zehn Uhr. Eile zurück zum Hotel, vorbei an der »Freedom-First«-Gemeinschaftsbank (verdammt, wäre ich doch nur als Erster auf diesen Namen ge­kommen!); dusche, frühstücke (einen übrig gebliebenen Apfel) und komme rechtzeitig zum Gottesdienst zurück in die Stadt. Es stellt sich heraus, dass die Kirche genau neben einer Synagoge liegt, und für einen Moment bin ich unentschieden, wohin ich gehen soll. Aber die Veranstaltung in der Kirche hört sich interessanter an. Hole ein Programmheft (#7) und schlüpfe am Fotografen der Roanoke Times vorbei in die hinterste Bank hinein.

Esse im Cabo Fish Taco zu Mittag (gucke Surf- und Skateboardsendungen im Fernsehen); zurück zum Campus. Es ist seltsam – alle scheinen die Farben der Schule zu tragen, was sie vermutlich die ganze Woche ge­tan haben. Besitzen sie so viele Uni-T-Shirts, oder gehen sie ständig in die Wäscherei? Jedenfalls ist die Atmosphäre seltsam gemischt, teils festlich, teils trauervoll, mit Leuten jeden Alters. Es sieht aus wie ein kombiniertes Eltern- und Absolventenwochenende. (Wenn man von den Scientology-Predigern absieht.) (#8) Manche liegen in der Sonne, andere spielen Frisbee, aber die Stimmung ist meis­tens ruhig und respektvoll. Auf dem Platz steht ein riesiges Zelt, mit mehreren großen Tafeln, auf die die Leute ihre Gedanken zum traurigen Ereignis schreiben können (#9). Gehe barfuß, um das Gras besser zu spüren. (Kommt es mir nur so vor, oder gucken die Leute mich komisch an?) Mache Bilder von einer Zeltstange (#10) und sammle Trauer-Spuren (#11, #12).

Ich hatte gehofft, dass ich hier Medienleute beobachten könnte, aber das Fernsehteam von heute früh ist schon gegangen. Irgendwann finde ich noch ein einsames Paar, und ich mache schnell einige Fotos (#13). Sammle Medienreste (#14), laufe vorsichtig über Kreidezeichnungen auf dem Boden (#15). Mir fehlt der Mut, ein Stück »Crime Scene«-Band als Souvenir abzureißen, also muss ich mich mit dem üblichen »Caution«-Band (#16) begnügen.

17 Uhr

Ein Picknick ist angesetzt, bei dem örtliche Restaurants kostenlos Essen verteilen. Über­all sind Kinder und es ist lustig – dieser ganze Trip hat sich viel mehr zu einer Familiensache entwickelt, als ich geahnt habe. Ich habe Hunger, und wer kann etwas gegen kostenloses Essen einwenden? Aber die Schlangen sind lang, und dieses Mal möch­te ich meinen Flug wirklich nicht verpassen. Schnappe mir eine Eiswaffel (zu meinem Glück gibt es dort keine Schlange) und gehe zurück zum Wagen.

20.30 Uhr, Washington-Dulles-Airport

Komme zur richtigen Zeit in D.C. an, aber mit dem Sammelbus dauert es gut zwei Stunden, bis wir uns dem Bahn­hof in der Stadt nähern. Bis dahin bin ich in eine fünfstündige Lücke zwischen den Zügen nach Norden geraten. Durch einen glücklichen Zufall feiert Rich eine Party in seinem alten Haus in Washington, und ich habe die Gelegenheit, ihn und Robyn zu treffen und Robyns neuen Freund kennen zu lernen. Um 1.30 Uhr verwöhnen mich Robyn und Amin mit einem libanesischen Reste-Essen bevor sie mich zum Bahnhof fahren.

22. April, Baltimore

Es ist unglaublich schön, wieder Zuhause zu sein. Als Ethan um halb acht aufwacht und in unser Schlafzimmer stürzt, bin ich müde, aber sehr froh, ihm zum Geburtstag gratulieren zu können, gerade so, wie auf den Tag genau vor vier Jahren, nach einer langen, aufreibenden Reise nach Armenien (Jungle World 27/03).

24. April

Ich habe vergessen, das übliche Selbst­porträt von mir beim Winken zu machen. (Irgendwie schien es auf dem Campus nicht richtig zu sein …) Also nehme ich ein Porträt, das Ethan nach unserer letzten Schneeballschlacht der Saison von mir gemacht hat.

25. April

Als ich die Fotos vom Labor abhole, merke ich, dass ich vergessen habe, Bilder von den Geburtstagskerzen ohne Kuchen zu machen. Ich hole Ethan am frühen Morgen vor das Haus und mache ein paar Fotos (#17), bevor wir einander unseren üblichen morgendlichen Abschiedsgruß sagen: »Have fun!«

Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster

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