Pommes in the Wind

Bob Dylans Never Ending Tour. Ein Konzertbericht von thomas blum

Es gibt Künstlerinnen und Künstler, deren Verdienste so gewaltig sind, dass man nichts gegen sie sagen darf. Zu ihnen gehört Billie Holiday. Oder Johnny Cash. Oder Bob Dylan. Von ihm darf, ginge es nach seiner Gemeinde (und um nichts anderes handelt es sich bei seinen Fans) und der willfährigen Medienblase, die für seinesgleichen seit Jahrzehnten dieselben Begriffe bereithält, nur als »Mythos«, »Legende«, »Ikone« gesprochen werden. Die Medien sind es auch, die »alljährlich etwas zu vielen Leuten einbläuen, mit Dylan komme sozusagen die Wahrheit nach Düsseldorf, Palermo oder Zürich« (Weltwoche).

Selbst sein Name darf nur wie der eines Heiligen, mit gehöriger Ehrfurcht, ge­senktem Haupt und angehaltenem Atem, ausgesprochen werden. Und jedes neue Album, das von ihm erscheint, wird seit schätzungsweise 20 Jahren dem »Spätwerk« zugeschlagen, und obendrein wird eine Exegese veranstaltet, als handle es sich dabei um jahrhundertelang verschollene Schriftrollen aus einer Welt vor unserer Zeit.

Die Frage, die einen beschäftigen sollte, lautet: Ist dieser ganze Zirkus, dieses täglich aufs Neue zelebrierte Heldenverehrungs- und Huldigungszeremoniell, gerechtfertigt?

Dylans Berliner Konzert soll um 19.30 Uhr beginnen. Man wird vom Veranstalter gebeten, pünkt­lich zu erscheinen, da der Großmeister »pünktlich auf die Bühne gehen wird«.

Doch den Platz zu finden, der einem zugewiesen wird, erweist sich zunächst als gar nicht so einfach, zumal man, um zu ihm zu gelangen, zunächst eine nicht enden wollende Bier-, Bratwurst- und Pommes-Fressmeile betreten und durchwandern muss, die man vorausschauend um das Auditorium herum errichtet hat und deren aufdringliches Neon­licht in der Folge dafür sorgt, dass man sich während des Konzerts in einer halberleuchteten Halle befindet. Doch wo Jesus leibhaftig zu sehen sein wird, muss es nun mal auch Gelegenheit zum Abend­mahl geben.

Tatsächlich betritt »the worldest fantastic lyric poet«, wie eine Konzertbesucherin in hochgradig fragwürdigem Englisch auf die Rückseite ihres Shirts gepinselt hat, nur wenige Minuten nach halb Acht die Bühne.

Dass der fast 66jährige seit Jahren albernerweise darauf besteht, dass während des Konzerts keine Film- und Fotoaufnahmen gemacht werden dürfen, mag man als spleenige Marotte eines alternden Künstlers abtun, doch bald begreift man, weshalb es der Mann vorzieht, nicht abgelichtet zu werden: Er möchte den Mythos bewahren. Betrachtet man nämlich die Combo, die die Bühne betritt, ein­mal unvoreingenommen, wird eine gewisse Peinlichkeit rasch offenbar. Da stehen Männer, die Hüte tragen, gekleidet in schlecht sitzende graue Anzüge. Und in ihrer Mitte steht ein dünner hagerer Mann, der trägt einen hellen Wanderpredigerhut. Es ist der Prophet. Seine Anzughose ziert ein weißer Streifen. Gianni Versace soll den geckenhaft wirkenden Anzug angeblich entworfen haben.

Bob Dylan spricht nicht. Nicht mit Journa­listen und nicht zu seinem Publikum. Wenigstens das ist ein hochgradig sympathischer Zug an ihm. Er begrüßt die versammelte Glaubensgemeinschaft nicht, und er spricht auch keine Dankesworte. Er offenbart sich nur in Taten. Er hantiert, mal von rotem, mal von blauem, mal von orangefarbenem Bühnenlicht bestrahlt, breitbeinig am Keyboard stehend, das er nur selten verlassen wird, und »verdreht dazu twistartig die Beine, was als Gemütsregung zu bewerten ist« (Berliner Zeitung).

Das absurde Verbot, Fotos zu machen, er­weist sich in der Folge als umso absurder, als die Leute hie und da freilich dennoch ihre mitgeführten Foto-Handys zücken und alles filmen, was ihnen vor die Linse kommt, und sei es auch nur ein verwackelter alter Mann mit Hut. Das Wunder, die allabendliche Wiederauferstehung des Herrn, muss im Bild festgehalten werden, um den Ungläubigen hernach den Be­weis zu erbringen: Der Heiland, er ist erschienen.

Und der Heiland mag offenbar sägenden Plumpsack-Countrybluesrockboogie in seiner qualitativ reduziertesten und altbackens­ten Form, breiartig und schwerfällig, von jeder denkbaren Nuance bereinigt. So nämlich klingt das meiste, was er und seine Kapelle da spielen.

Und so wird beinahe jedes Stück, von »Absolutely sweet Marie« bis »All along the watchtower«, zielgerichtet verorgelt, verrumpelt, vergniedelt, verknödelt, vergeigt und von einem hyperaktiven Hardrock-Schlagzeuger zerdeppert, bis kaum noch etwas von dem dargebotenen Song übrig ist. Doch vermutlich gehört das zum Dy­lanschen Konzept der stetigen Variation seines Materials. Jedenfalls »braucht man manchmal ein bisschen, bis man weiß, was gespielt wird« (Die Zeit). Das Ergebnis ist meist ein bleierner Kleinstergemeinsamernenner-Rock, mehr Beschallung als Musik. Die Meute aber nimmt’s freudig und gelassen zur Kenntnis. Der ein oder andere soll vor Gerührtheit oder Begeisterung gar in Tränen ausgebrochen sein, wie in der Presse zu lesen war.

Der weißhaarige Bioladenbesitzer mit Alt­hippiezopf jedenfalls kopfwackelt bei dem diffusen Klang-Eintopf ergriffen mit, und auch die aufgebrezelte Chefsekretärin im Kostümchen legt zu »Desolation Row« mit ihrem Chef ein flottes Tänzchen hin. »He’s going to the carnival tonight /On desolation row.«

Erst als Dylan sich anschickt, die Ballade »Nettie Blue« in einer kargen Version und nach der Manier von Tom Waits herauszuschnarren, kehrt für einen kurzen Moment so etwas ein wie Andacht oder Stille: »Win­ter’s gone, the river’s on the rise / I loved you then, and ever shall / But there’s no one left here to tell / The world has gone black before my eyes«, singt er. Oder besser: knarzelt er hervor, halb betend, halb beschwörend.

Und was tut sein Publikum in diesem Moment? Bratwurst und Bier holen gehen.

Am Ende geschieht selbst das, von dem man erhoffte, es bliebe einem erspart, unweigerlich doch. Der Meister spielt den Gassenhauer »Blowin’ in the wind« als letzte, finale Warnung davor, seine Konzerte zu besuchen. Doch weil er die Live-Interpretationen seiner Songs fortwährend abwandelt und um­arran­giert, hat er sich etwas ausgedacht: Er spielt, um seiner für den heutigen Abend gewählten Form der musikalischen Darbietung treu zu bleiben, den totgenudelten Lieblingsschlager der Hippies in einer kaum wiederzuerkennenden scheppernden, aufgeblähten Bluesrockboogierockhochzeits­gesellschafts- und Kleinstergemeinsamernenner-Version. Und über dem einherrumpelnden Einerlei des Soundbreis, der so in jeder Kaschemme erklingen könnte, liegt die knarzende Stimme des Meisters. Das Wunder, es nimmt seinen Lauf.

Die Leute sind’s zufrieden. Sie kamen, um ein Volksfest zu feiern. Bzw. eine Messe. Alt und jung. Reich und arm. (Nun gut, nicht ganz so arm, die Eintrittskarte kostet 60 Euro.) »Und Erwin fasst der Heidi / Von hinten an die Schulter.« (Gottlieb Wendehals)

Eine ältere Dame neben mir, Typ Reli­gions­lehrerin, lächelt tief befriedigt ob des erklingenden Soundbreis, schaut aber dennoch ein wenig besorgt auf ihre Uhr. Sie scheint sich Gedanken darüber zu machen, ob sie noch rechtzeitig zu den Tagesthemen zu Hause ist. No Sex, no Drugs, no Rock’n’Roll. Keine Ekstase, nirgends. Abgesehen von einer Hand voll Leute in Bühnennähe, die sich nicht entblöden, Wunderkerzen anzuzünden und sie in die Höhe zu halten. Sie sind glücklich, denn sie haben ihre Bürgerpflicht erfüllt: Sie haben zu »Blowin’ in the wind« auf dem Konzert von Bob Dylan, »the worldest fantastic lyric poet«, Wunderkerzen in die Höhe gehalten. Mehr kann man nicht wollen.

Einige von ihnen werden beim Verlassen der Halle am Devotionalienstand wohl auch ein »Bob-Dylan-Bowlinghemd« erworben haben. Kostet ja nur 60 Euro.