Weißstörche als Friedenstauben

Eine halbe Milliarde Vögel, mehr als an jedem anderen Ort der Erde, passieren auf ihrem Zugweg im Herbst und Frühjahr Israel. Naturschützer versuchen, wieder mehr Touristen ins Land zu locken – und damit auch die eigene Umweltlobby zu stärken. von thomas krumenacker (text und fotos)

Sollten Unterhaltungen in einem Natur­paradies so klingen? »Man wartet ab, wie viele Ambulanz-Sirenen zu hören sind. Eine ist kein Problem, kritisch wird es erst ab der zweiten, bei der dritten weiß man, es ist etwas passiert.« David, ein ruhiger hochgewachsener Niederländer in den Vierzi­gern, gibt an diesem sonnigen Frühlingsmorgen am Frühstückstisch des Kibbuz Lotan in der israelischen Negev-Wüste einen Einblick in die Strategie, mit der die Menschen in Is­rael mit der Gefahr und auch der Angst vor Terror­anschlägen umgehen. Ende Januar spreng­te sich in der 40 Kilometer entfernten Urlauberhochburg Eilat ein Selbstmordattentäter in die Luft, drei Israelis starben. Es war das erste Mal überhaupt, dass Terroristen versucht haben, das Herz der israelischen Tourismus­industrie am Ufer des Roten Meeres direkt anzugreifen.

Und doch: Das Thema Terror anzusprechen, fällt meist nur den Besuchern ein, wie die Bewohner des Kibbuz nicht ohne kritischen Unterton anmerken. Israel ist nicht unsicherer als andere Orte auf der Welt, glauben sie. Ist das die Abgebrühtheit nach vielen Jahren der Gefahr, oder wird in Europa die Angst vor Anschlägen in Israel übertrieben? Und ha­ben nicht kürzlich deutsche Behörden gewarnt, auch Berlin, Köln oder München be­fänden sich mittlerweile auf einer »Gefahrenstufe« mit Madrid, London oder eben Tel Aviv?

Auch David, der seit 15 Jahren in Lotan wohnt, kann ein Lied von der seiner Meinung nach absurd überzogenen Terrorangst in Eu­ropa singen. »Wir gelten als Kriegszone«, sagt er mit spöttischem Unterton, während um ihn herum spielende Kinder auf dem Boden krabbeln und eine bunte Vielsprachigkeit aus Hebräisch, Englisch und Französisch herrscht. Nein, wie im Kriegsgebiet erscheint der kleine Kibbuz im Süden Israels nicht. Lotan liegt im Schatten der Berge des Arava-Tals an der jordanischen Gren­ze. Der Grenzzaun verläuft direkt hin­ter dem Kibbuz. Israel und Jordanien, neben Ägypten der einzige Nachbar, der sich zum Frieden mit dem jü­dischen Staat bekannt hat, trennen hier stellenweise nicht mehr als ein rostiger Zaun und zwei Sandpisten, auf denen die Grenzschützer beider Staaten mit ihren Jeeps patrouillieren.

Das Frühstücksgespräch über Terrorangst und -hysterie wird beendet durch das, wofür die Kommune in der Wüste unter Kennern weltberühmt ist: Vögel. Jonathan Meyrav, einer der besten Vogelkenner Israels, tritt an den Tisch und ruft den Umsitzenden zu: »Der Himmel ist voller Störche!« Vor den Speisesaal ins Freie geeilt, blicken Besucher wie Bewohner in den strahlend blauen Morgenhimmel. Mit bloßem Auge die einen, mit Ferngläsern und Fernrohren andere, weit gereist, um sich von Jonathan, dem 30jährigen Experten mit langem Pferde­schwanz und Sonnenbrille, die Vogelwelt der Wüste zeigen zu lassen.

Endlos schweben Tausende Weißstörche über den Köpfen, aus weißen Wolken kommen immer neue Gruppen der Vögel hervor, alle gleiten, mühelos die Thermik des warmen Frühlingsmorgens nutzend, kein einziger Flügelschlag ist zu sehen. Mehr als 6 000 Vögel bilden den Verband, und alle segeln streng Richtung Norden in ihre Brutgebiete in Polen, Frankreich oder auch Deutschland. In einigen Tagen werden sie auf Scheunendächern in Brandenburg oder im Elsass klappernd um die Gunst ihres Partners balzen und als Frühlingsboten willkommen geheißen werden.

Aus dem Kibbuz Kfar Ruppin werden Vogelkundler später spektakuläre Zahlen melden. Auf Wiesen und Feldern um den Kibbuz zählten sie nicht weniger als 102 000 Störche. »Zehn Prozent der gesamten Weltpopulation haben dort heute geschlafen«, erzählt der bekannteste Ornithologe Israels, Yossi Leshem, stolz.

Das Naturparadies ist auch Brennpunkt des politischen Weltgeschehens mit dem schein­bar unlösbarsten aller politischen Konflikte, dem des Nahen Ostens, im eigenen Land. Das ist die Situa­tion, vor der Israels Umweltschützer stehen. In der Hoffnung, dass sich eine politische Entspannung abzeichnen könnte, wollen sie in die Offensive gehen und Hunderttausende Vogelbegeisterte nach Israel holen: als Wirtschaftsfaktor und als Unterstützer im Kampf gegen die auch in Israel voranschreitende Naturzerstörung.

Die Voraussetzungen dazu sind auch im Weltmaßstab beispiellos – und sie lassen sich im »Vogel-Kibbuz« Lotan, im Herzen des Arava-Tals, jeden Tag faszinierend studieren. Jordaniens Berge zur einen und die Berge der Negev-Wüste zur anderen Seite markieren das Tal, das sich eine halbe Autostunde wei­ter südlich in Eilat in das Rote Meer am Golf von Akaba verliert. Morgens leuch­ten die Sedimentgesteine der Arava-Hügel mit der ersten Sonne hell, fast weiß; im milden Abendlicht glühen auf der gegenüberliegenden Seite des Tals die Felsformationen auf jordanischer Seite in tiefem Rot. Die unterschiedlichen Gesteinsformationen entlang des Tals markieren exakt die Schnittstelle zwischen dem afrikanischen und dem eurasischen Kontinent. Sie gehören zum Great Rift Valley, dem großen afrikanischen Graben, jenem gigantischen Riss in der Erdkruste, der durch die Bewegung der tektonischen Platten während der letzten 35 Millionen Jahre entstanden ist und sich über 7 000 Kilometer lang zwischen der Türkei und Mosambik erstreckt.

Diese einmalige Gegebenheit macht das kleine Land zu einer der bedeutends­ten Drehscheiben des globalen Vogelzugs. 500 Millionen Zugvögel passieren Israel, ein Land von der Größe Hessens, in jedem Herbst und Frühjahr. Kleinere und leichte Vögel – Singvögel wie Mönchs- oder Gartengrasmücken, Blau­kehlchen oder Steinschmätzer und andere gewandte Langstreckenzieher wie Mauersegler, Rauch- und Mehlschwalben wählen die direkte Route auf ihrem Weg vom Winter- ins Brutquartier. Sie ziehen gerne nachts, wenn die Temperaturen niedriger und die Gefahr durch natürliche Feinde wie Greifvögel geringer ist. Für die lange Reise, oft mit kaum einer Pause über 3 000 Kilometer Wüste, fressen sie sich bei mehrwöchigen Stopps in den grünen Oasen Israels Fettreserven an. Eine gute Gelegenheit für Vogelbeobachtungen, sind die nahrungssuchenden Vögel, zu Hause scheue Selten­hei­ten, hier doch zutraulich und in großer Zahl anzutreffen.

Große, schwere Vögel – Störche, Pelikane und Greifvögel – haben eine andere Strategie. Ihre Körper sind in Relation zur Flügellänge zu schwer, als dass sie Fettvorräte transportieren könnten. Sie fliegen Kräfte sparend unter Ausnutzung der Thermik – warmer Luftschich­ten, die morgens entlang von Bergkämmen oder über sonnen­erwärm­ten Ebenen aufsteigen und die Vögel nach oben tragen. Weil sich Ther­mik nur über Land bildet, meiden große Vögel den Flug über offenes Wasser und nutzen, wo immer möglich, Landkorridore. Israel ist – noch vor Panama und der Straße von Gibral­tar – einer dieser weltweiten Flaschenhälse, und die Zahl der imposanten Greifvögel, die in jeder Zugsaison Israel überqueren, ist eindrucksvoll. Der gesamte Weltbestand des stark bedrohten Schrei­adlers – wenige Paare brüten auch in Nordostdeutschland – und des in Osteuropa heimischen Kurzfangsperbers etwa passiert zweimal im Jahr den Luftraum des jüdischen Staates.

Gemeinden wie der Kibbuz Lotan haben den Schatz erkannt, den sie beherbergen, und bieten mit Erfolg kombinierte Vogeltouren und Wohnmöglichkeiten an; von der halbtägigen Erkundung in der unmittelbaren Nähe bis hin zu Sieben-Tages-Touren durch ganz Süd­israel (www.­birdingisrael.com). Doch Israels Ornithologen um Dan Alon, den Chef der Israelischen Gesellschaft für den Schutz der Natur, wollen mehr. Sie möchten an alte Zeiten anknüpfen und Öko-Touristen in großer Zahl ins Land holen.

»Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um das Signal in die Welt zu senden. Israel ist bereit, seinen Gästen Einmaliges zu zeigen«, sagt der sonst eher nüchterne Mann euphorisch. Alon, den das US-Nachrichtenmagazin Time wegen seines Engagements für den Schutz der Vögel auch über Grenzen hinweg in seine »Heroes Galery for the Planet« aufgenommen hat, richtet seinen Appell auch an die eigene Regierung. »Wir wollen ihr begreiflich machen, dass es hier nicht allein um eine fixe Idee einiger Vogelverrückter geht«, sagt er. »Es geht um einen bislang völlig unterschätzten Wirtschaftsfaktor.« Alon, der Vogellobbyist, verspricht sich aber auch für den Naturschutz Impulse: »Wir können mit den Besuchern die Stimme für die Natur stärken«, sagt er mit Blick auf die sorglose Zerstörung von Rast- und Überwinterungsgebieten durch den Bau von Straßen und die voranschreitende Intensivierung der Landwirtschaft. »Die Vögel, die sich hier für ihren Weiterzug rüsten, haben keine Alternative. Wir müssen für sie kämpfen.«

Getreu dem Leitspruch ihrer Lobby­arbeit »Vögel kennen keine Grenzen« überwinden auch Israels Vogelschützer ebendiese. Gerade haben sie gemeinsam mit palästinensischen Mitstreitern die erste Vogelschutzstation im Westjordanland aufgebaut. Die palästinensischen Beringer der Station in Jericho wurden in Israel ausgebildet, auch technische Ausstattung und Materialien überließ man ihnen. »Die Kooperation im Nahen Osten gibt es längst, wir machen es vor«, sagt Yossi Leshem.

Mit ihrem palästinensischen Mitstreiter Imad Atrush, einem Ornithologen aus dem Westjordanland, konferieren Alon und Leshem häufig. Sie planen und realisieren neue grenz­überschreitende Projekte. Zur Beringung gefangenen und zur Erforschung ihrer Zugroute mit Sendern ausgestatteten Vögeln wurden beispielsweise in Rahmen von Schülerprojekten christliche, jüdische und arabische Namen gegeben. Seitdem verfolgen Kinder im Westjordanland, in Jor­danien wie in Israel via Internet die Zugroute »ihrer« Vögel und lernen so nebenbei nicht nur viel über den Vogelzug, sondern auch, dass es auf der anderen Seite der Grenze Menschen mit der gleichen Leidenschaft gibt.

»Vielleicht bringen uns nicht die Tauben eines Tages den Frieden, sondern die Weißstörche«, sagt Yossi Le­shem gerne. »Israels geographische Lage ist geopolitisch eine Katastrophe, für die Natur ist sie das Paradies«, schwärmt er. Das neueste Projekt, an dem die Israelis Alon und Leshem sowie der Palästinenser Atrush arbeiten, ist die grenzüberschreitende Ansiedlung von Schleiereulen als »biologische Waffe« gegen Nagetiere in den Landwirtschaften von Palästinensern, Jordaniern und Israelis gleichermaßen. Begleitet wird das durch Erziehungsprojekte für Schüler mit gemeinsamen Begegnungen. »Vögel sind großartige Botschafter«, ist sich Dan sicher.

Wie wichtig Umwelttourismus für die schwächelnde israelische Ökonomie sein kann, haben die politisch ruhigen Phasen in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt. Zwischen erster und zweiter Intifada besuchten Hunderttausende Vogel­beobachter das Land, die meisten über Reise­veranstalter. Nach dem Wiederaufflammen der palästinensischen Gewalt strichen viele Veranstalter Israel aus dem Programm. Seit­dem touren Öko-Touristen fast nur noch auf eigene Faust durchs Land. Die Zahlen des Tourismusministeriums lesen sich wie eine Fieberkurve des Nahost-Konflikts. An­fang vergangenen Jahres etwa war die Euphorie groß. Im ersten Halbjahr besuchten 22 Prozent mehr Touristen Israel als im Vor­jahreszeitraum. Die Wende kam mit dem Libanon-Krieg. Das Jahr schloss mit 1,8 Mil­lionen Besuchern ab – fünf Prozent weniger als im schwachen Jahr 2005.

Auch die Ornithologen können bittere Geschichten erzählen. Mit vereinten Kräften stellten sie einen ornithologischen Reiseführer zusammen. »Im September 2000 hatten wir das Buch endlich im Regal«, berichtet Dan Alon und zieht die Augenbrauen hoch: »Pünktlich zum Ausbruch der zweiten Intifada …«  Das Buch blieb lange Zeit ein Ladenhüter. Auch 2006 machte der Nah­ost-Konflikt den Öko-Strategen einen Strich durch die Rechnung. Kaum war das erste internationale Zugvogelfestival im Vogelreservat Hula im Norden Israels mit Touren und Vorträgen weltweit führender Fachleute angekündigt, brach der Libanon-Krieg aus. Im Hula-Tal, dem einst größten Feucht­gebiet des Nahen Ostens, in dem jedes Jahr Zehntausende Kraniche überwintern, schlugen Katjuscha-Raketen von Hizbollah-Terroristen ein.

Unverdrossen unternahmen Alon, Leshem, Meyrav und ihre Mitstreiter Ende März einen neuen Versuch und veranstalteten das erste »Frühjahrszug-Festival«, diesmal in Eilat. Viele ausländische Besucher kamen, nahmen an den Touren teil und staunten über die Naturwunder Israels. Die gesamte Presse berichtete und erste Spezial-Tourveranstalter nahmen Israel wieder in ihr Programm auf. Bei der Abschlussfeier verkündeten die Veranstalter die stolze Bilanz: 219 Vogelarten wurden in der Woche beobachtet, darunter Raritäten wie der nachtaktive Nubische Ziegenmelker oder die menschenscheuen Einödgimpel. Ja, so sollten Gespräche im Naturparadies klingen.