Alles so ruhig

Die Nationale Befreiungsfront hat die Parlamentswahlen in Algerien gewonnen. Es war ein Sieg mit wenigen Wählern. von bernhard schmid, paris

Die jüngsten Wahlen und die Debatten, die ihnen vorausgingen, wurden von der algerischen Bevölkerung mit lebhaftem Interesse verfolgt. Allerorten waren die Fernsehgeräte eingeschaltet und die Satellitenschüsseln ausgerichtet, wenn die Rede auf die Präsidentschaftswahl in Frankreich kam. Endlich Kontroversen, endlich eine Richtungsentscheidung! So wurde es jedenfalls in Algerien wahrgenommen. Anlässlich des großen Fernsehduells zwischen Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal waren in manchem Stadtteil der Hauptstadt Algier die Straßen wie leergefegt. Hätte man auf der anderen Seite des Mittelmeers abgestimmt, dann hätte Ségolène Royal allerdings mit einer satten Mehrheit rechnen können.

Wahlen? Algerien? Ach ja, da war noch etwas: Am Donnerstag voriger Woche wurde das algerische Par­lament nach Ablauf einer fünfjährigen Legislaturperiode neu gewählt. Die absolute Mehrheit erhielt dabei erneut das so genannte Präsidentenbündnis. Dieses besteht aus der mittlerweile konservativ gewendeten, teils national-religiös eingefärbten früheren Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) von Staatschef Abdelaziz Bouteflika und Regierungschef Abdelaziz Belkhadem als größter Fraktion, aus ihrem von bürgerlichen Karrieristen getragenen Spaltprodukt, der Nationalen Sammlungsbewegung für Demokratie (RND) des früheren Ministerpräsidenten Ahmed Ouyahia, sowie aus den »moderaten« Regierungsislamisten der Partei Hamas-MSP.

Glühende Leidenschaften hat die Wahl nicht entfesselt, um es einmal zurückhaltend auszudrücken. Die Wahlbeteiligung lag bei 35 Prozent, in Algier gar nur bei 18 Prozent. Wer bei den Leuten nachfragte, warum die Wahl ihrer Abgeordneten sie nicht vor die Tür locken könne, erhielt regelmäßig zur Antwort: »Alles Diebe, alles Banditen.« Politiker im algerischen System werden systematisch verdächtigt, nur an ihrer eigenen Versorgung interessiert zu sein.

So sieht eine Gesellschaft aus, die keine Hoffnung auf politische Veränderung hat. 45 Jahre nach der unter hohen Opfern erkämpften Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht leben so manche Algerier in ihrem Kopf »zur Hälfte in Frankreich«, wie manche Beobachter feststellen. Der islamistische Terror, der Algerien in den neunziger Jahren in einen blutigen Bürgerkrieg stürzte, markierte das Scheitern eines »spezifischen Sozialismus« des FLN und seines Versuchs einer autozentrierten Entwicklung und Industrialisierung.

Die ökonomische und soziale Situation des überwiegenden Teils der Gesellschaft ist prekär, es ist aber keine Zuspitzung zu beobachten, die zu einer sozialen Explosion führen könnte. Wegen der stark gestiegenen Rohölpreise sind die Staatskassen prall gefüllt: 70 Milliarden US-Dollar Devisenreserven, das ist eine seit Jahrzehnten unbekannte Situation. Insofern hat der algerische Staat derzeit die Mittel, sich in gewissem Maße den sozialen Frieden zu erkaufen. So wurden zahllose unabgesicherte Kredite vergeben, die etwa die Eröffnung von Fast-Food-Restaurants und ähnlichen Geschäften erlaubt haben. Ein Großteil davon geht zwar kurz- oder spätestens mittelfristig pleite, und die Kredite werden wohl kaum zurückgezahlt werden können. Aber das schuf prekäre Selbständigkeit und Arbeitsplätze für einen Teil der Jugend. Die Arbeitslosenquote ist offiziell von 30 Prozent im Jahr 2000 auf 12 Prozent im vorigen Jahr gesunken.

Es herrscht eine Mischung aus fehlender Zukunftssicherheit und sich ausbreitender Business-Mentalität bei fehlender materieller Absicherung. Viele Jungunternehmer, die innerhalb kürzester Zeit viel Geld verdienen konnten, leben mit ihren Eltern und Geschwistern in überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnungen. Vor einigen Jahren traten diese Widersprüche noch nicht so deutlich hervor, da sich die überwiegende Mehrheit der Algerier vom Terrorismus der neunziger Jahre und der damit verknüpften Todesangst betroffen fühlte. Deshalb dominierten noch der Überlebenswille und der Anschein, dass alle – notgedrungen – miteinander solidarisch seien. Mittlerweile ist dies einer Ellenbogenmentalität gewichen.

Diese Lücke füllt mehr und mehr die Religion aus. Nicht im Sinne des politischen Islam, also verknüpft mit der Perspektive eines Gottesstaats und der Hoffnung auf Lösung gesellschaftlicher Probleme durch Einführung der Sharia. Sondern im Sinne einer Ausbreitung konservativ-pietistischer Frömmigkeit und der zunehmenden Befolgung religiöser Regeln im Alltag, ohne dass eine Verbindung zur Politik hergestellt würde.

Die Organisationen des politischen Islam backen heute eher kleine Brötchen. Da sind die Regierungsislamisten der Hamas-MSP, die seit 1999 im Kabinett vertreten sind: Ihre Rolle zwingt sie de facto dazu, nach Lösungen für aktuelle Aufgaben außerhalb politisch-religiöser Wunderrezepte, nach technokratischen Antworten auf reale Fragen zu suchen. Sie spielen heute im algerischen politischen System eine Rolle, die grob mit jener der CSU in Deutschland verglichen werden kann. Da sind auch die Reste der oppositionellen Islamisten, der 1992 verbotenen »Islamischen Rettungsfront« (Fis). Manche ihrer Repräsentanten dürfen seit einigen Monaten auch wieder ganz offiziell in Algerien Politik machen. Eine mitreißende Dynamik konnten auch sie nicht hervorrufen.

Da es dem FLN bei dieser Wahl offenbar nicht gelungen ist, seine in Jahrzehnten herausgebildeten klientelistischen Netzwerke – die vor allem in der algerischen Provinz noch existieren – zu mobilisieren, verlor er 63 Sitze im Parlament und hat nunmehr 136 Abgeordnete. Doch nach wie vor bleibt er stärkste Partei. Von seinem Rückschlag profitieren die Regierungspartner vom RND, aber auch die Hamas-MSP: Beide gewinnen ein gutes Dutzend Sitze hinzu.

Links traten zwei Parteien an. Die bekannte, aber weniger progressive unter ihnen ist die Arbeiterpartei (PT) von Louisa Hanoune. Die ehemaligen Trotzkisten treten heute vorwiegend nationalistisch auf, kritisieren zwar das internationale Kapital und die wirtschaftsliberalen »Reformen«, halten sich aber seit einiger Zeit mit Kritik an der algerischen Oligarchie auffällig zurück. Da der PT aber zu den wenigen Kräften gehört, die überhaupt konkret die sozialen Fragen aufgreifen, errang er ähnlich wie bei den letzten Wahlen einen Achtungserfolg. Erneut bekam er rund fünf Prozent der Stimmen, aber mit 26 Sitzen sechs Mandate mehr als beim vorigen Mal. Weiter links steht die kleine, eher undogmatisch-trotzkistische Sozialistische Arbeiterpartei (PST), die dieses Mal auch zahlreiche Linke – marxistische Intellektuelle, ehemalige Parteikommunisten, Journalisten, Gewerkschafter – sammeln konnte. Ihre Listen waren in ungefähr der Hälfte des Staatsgebiets vertreten und erhielten dort, wo sie antraten, zwei Prozent der Stimmen, aber keinen Sitz.

Generell zahlt sich ein Antreten zu den Wahlen mit einem sozial widerständigen Profil derzeit nicht sehr aus, da der Teil der Gesellschaft, den dies ansprechen könnte, ohnehin nicht wählen gegangen ist.