Die Bürger waren die dummen Kerls

Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde versucht, die nationale mit der sozialen Frage zu verknüpfen, um die Arbeiter ins System zu integrieren. von georg fülberth

In seinem Jahrhundertwerk »Eine kurze Geschichte der Demokratie« beschreibt der italienische Altphilologe und Historiker Luciano Canfora ein offenbar zeitloses Problem: Wie kann die Ungleichheit mit der Demokratie vereinbart werden? Als Athen zu einer expansiven Seemacht wurde, musste das Bürger- und Wahlrecht erweitert werden: um die Ruderer, die für den Betrieb der Schiffe unentbehrlich waren, bei der Stange zu halten. Für die Besitzenden stellte sich damit das Problem, wie sie dann noch ihre Herrschaft aufrecht erhalten konnten. Perikles beruhigte sie: Durch geschickte Politik konnten sie hegemonial bleiben. Allerdings muss, wer die Massen beeinflussen will, auf sie eingehen, er führt nicht nur, sondern wird auch ein bisschen geleitet. Dies ist die Frage jeder – wenngleich asymmetrischen – Manipulation. Die da oben können nur herrschen, wenn möglichst viele von denen da unten zu Tätern werden.

Otto von Bismarck (1815 bis 1898) hatte zwar in der Schule oft nicht aufgepasst, aber das machte nichts. Das Leben selbst zwang ihn zu ähnlich krummen Wegen wie einst Perikles. Im Jahr 1867 führte er das allgemeine Wahlrecht für die Wahlen zum Norddeutschen Reichstag ein, ab 1871 galt es auch unter dem neuen Kaiser Wilhelm. Die neuen Untertanen sollten dadurch enger ans Reich gebunden werden, außerdem wollte Bismarck die Liberalen ärgern. Diese waren nämlich gegen das allgemeine Wahlrecht, denn zumindest in der Steuergesetzgebung wollten sie unter sich bleiben. Bismarck aber meinte zu wissen, dass die ostelbischen Landarbeiter für die Konservativen stimmen würden. Ein Problem waren die Städte. Die dortigen Arbeiter hielten sogar in den zwölf Jahren zur Sozialdemokratie, als sie durch das Sozialistengesetz verboten war (1878 bis 1890).

Unter den neuen Bedingungen des Kapitalismus lautete die alte Frage des Perikles: Wie konnten bei allgemeinem Wahlrecht die Volksmassen dazu gebracht werden, ihre eigenen Metzger selber zu wählen? Die Antwort: durch eine Kombination der sozialen mit der nationalen Frage und mit dem Rassismus.

In Berlin versuchte der Hofprediger Adolph ­Stoecker die Arbeiter mit antisemitischer Agitation für Thron und Altar zu gewinnen. Sie hörten aber lieber auf August Bebel, der ihnen erklärte, dies sei der Sozialismus der dummen Kerls. Der Aufgabe, die Massen systemkonform zu mobilisieren, unterzog sich dagegen mit großem Erfolg der Alldeutsche Verband. Allerdings konnte er nur das Bürgertum und das Kleinbürgertum gewinnen.

Selbst der Erste Weltkrieg änderte an der klassenspezifischen Ungleichverteilung des Chauvinismus nichts Entscheidendes. Im August 1914 schien zwar die ganze Nation besoffen, aber die Arbeiterklasse war davon doch weniger tangiert. Im Juli hatten noch große Friedensdemonstrationen stattgefunden, wenige Wochen später waren auf denselben Straßen die Massen kriegsbegeistert. Doch es kann sein, dass es sich um unterschiedliche Mobilisierungen handelte: Zunächst demonstrierte die sozialdemokratische Arbeiterklasse, dann der bourgeoise und kleinbürgerliche Mob. Spätestens nach der Abspaltung der USPD von der MSPD im Jahr 1917 und den ersten Massenstreiks war klar, dass das deutsche Proletariat nicht länger für die nationale Sache begeistert werden konnte.

Die manchmal zu lesende Ansicht, dass in der nachfolgenden Weimarer Republik völkischer Antikapitalismus eine große Ausstrahlungskraft auf Teile der Arbeiterbewegung und die Linke gehabt habe, beruht auf einer optischen Täuschung infolge klassenpolitischer Blindheit. Richtig ist, dass der Versailler Vertrag von der KPD ebenso abgelehnt wurde wie von der gesamten Rechten und der Mitte. In der Sicht der Kommunistischen Partei war er ein Diktat von gleicher Schändlichkeit, wie es ein Jahr vorher Russland durch das kaiserliche Deutschland im Frieden von Brest-Litowsk auferlegt worden war. Tatsächlich propagierte die Partei mit einem Zungenschlag, für den wir heute aufmerksamer geworden sind, eine Art nationaler Befreiung. Gemeint war aber die Abschüttelung jeder imperialistischen Herrschaft.

Versailles war nur ein Fall unter anderen. »Schlagt Poincaré und Cuno an der Ruhr und an der Spree!« – diese linke Parole gegen den französischen Ministerpräsidenten und den deutschen Reichs­kanzler während der Ruhrbesetzung 1923 zeigt die doppelte Stoßrichtung. Daran hat sich bis 1933 im Wesentlichen auch nichts mehr geändert.

Aber es gab einen völkischen Antikapitalismus und Anti-Imperialismus. Die Politik des Alldeutschen Verbandes setzte sich in der Weimarer Republik fort. Die NSDAP trieb sie auf die Spitze. Versailles war für die Faschisten ein Diktat des Westens – und dieser stand für Aufklärung und den Einfluss der Juden. Deutschland wurde als Land der Mitte und der vormodernen Werte verstanden. Solche Überlegungen fanden sich in den feinsten Kreisen, zum Beispiel auch bei Thomas Mann, etwa in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« aus dem Jahr 1918. (Er hat sich allerdings bald wieder davon distanziert.)

Die Feindschaft gegen Versailles galt dem Imperialismus der anderen, nicht dem eigenen. Kapitalismus als Schimpfwort war in dieser Agitation nur eine andere Vokabel für Moderne. Der Soziologe Werner Sombart propagierte einen »Deutschen Sozialismus«. Dieser hatte mit gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln nichts, aber viel mit Volksgemeinschaft zu tun.

Die materielle Basis dieses »Antikapitalismus« war eine Enteignung, die tatsächlich ab 1918 stattfand: die Zerstörung der Sparvermögen durch die Inflation. In der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. fanden sich Handwerkersöhne plötzlich nicht mehr als Erben des väterlichen Kleinbetriebs (der auch vorher schon schlecht gegangen war), sondern ohne Kunden, pleite, ohne Aussicht auf Beschäftigung im alten Beruf, arbeitslos wieder. Sie waren Proleten wider Willen, und Hitler setzte für sie das Substantiv »Arbeiter« in den Parteinamen. Der zeitweilige Programmatiker der Partei, Gottfried Feder, durfte eine »Brechung der Zinsknechtschaft« fordern, auch Goebbels gab sich sozialistisch. Aber bereits ab 1926 sorgte Hitler dafür, dass das von den Industriellen nicht falsch verstanden wurde. Die SA konnte noch antikapitalistisch weiterschwadronieren und kämpfte um Hegemonie in den Arbeitervierteln. Gewonnen hat sie diese bis 1933 nicht. Ihre Enthauptung 1934 war das Signal an die konservativen Eliten: »Auftrag erfüllt«.

Als anti-imperialistisch galt die Lehre von den »jungen Völkern«, die der Ideologe Moeller van den Bruck verbreitete. Zu ihnen gehörten die Deutschen und die Russen. Ja, die Russen. Doch mit ihnen werde erst dann eine zukunftsweisende Gemeinschaft möglich sein, wenn sie von der bolschewistischen Knechtschaft befreit seien.

Anti-Marxismus und Antisemitismus blieben mit dem völkischen Anti-Imperialismus und Deutschen Sozialismus identisch. Das ist ein Grund dafür, dass diese Richtung zwar zur bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massenbewegung werden konnte, in der organisierten Arbeiterbewegung bis 1933 aber nichts zu sagen hatte. Der nazistische Sieg im »Kampf um die Seele des Arbeiters« fand erst nach dem 30. Januar 1933 statt.